Die Angst des wei�en Mannes
fremden Zugriff entziehen würde.
Die Indische Union hat auf diese chinesische Progression an ih rer Nordgrenze bislang äußerst zögerlich reagiert. Zwar führt noch eine winzige Eisenbahn in das Hochland von Darjeeling und des sen Teeplantagen, wo einst die Briten Zuflucht vor der erdrücken den Monsunschwüle Calcuttas suchten. Ganz unbedenklich für In dien wäre diese enge Verknüpfung aber nicht. Während die Welt sich über die Annexion Tibets durch Mao Zedong entrüstete, hatte die im Westen hochverehrte Ministerpräsidentin der Indischen Union, Indira Gandhi, die Tochter Nehrus, ohne viel Aufhebens den König von Sikkim aus seiner bizarren Hauptstadt Gangtok ver trieben. Sie hatte die Auflehnung der dort lebenden buddhistischen Bevölkerung gegen die Einverleibung in einen überwiegend hin duistischen Staatsverband ignoriert und in den Klöstern, die der Verehrung Gautamas geweiht waren, ihre Soldaten stationiert. Ich hatte mich persönlich von dieser militärischen Okkupation, die der Präsenz der chinesischen Volksbefreiungsarmee in Tibet in nichts nachstand, im Sommer 2006 an Ort und Stelle überzeugen können.
Es gibt für den Generalstab in Delhi noch zusätzliche Gründe, in dieser undeutlich definierten Grenzregion einen allzu engen Schulterschluß mit den Chinesen zu vermeiden. Nicht nur in Sikkim herrschtUnzufriedenheit mit der Bevormundung durch die fremde Besatzung. Südlich davon ist die gewaltige Kontinentalmasse der Indischen Union nur durch einen schmalen Territorialschlauch von knapp 100 Kilometern Tiefe mit seinen östlichsten Provinzen und Teilstaaten Assam, Nagaland und Arunachal Pradesch verbunden, wo seit Jahrzehnten ein Zustand rebellischen Aufruhrs gärt. Für ausländische Reisende sind diese Territorien gesperrt.
Jenseits des erwähnten Korridors befindet sich bereits die Nord-grenze von Bangladesch, dessen muslimische Bevölkerung auf engstem Platz zu ersticken oder im Gangesdelta zu ertrinken droht. Seit der »partition« des Subkontinents im Jahr 1947 hatte Ost-Ben galen zwar seine Verselbständigung von Pakistan vollzogen, aber die Bangladeschi schüren weiterhin tiefe Ressentiments gegen die hinduistischen Erbfeinde von West-Bengalen.
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Meine Überlandreise führt mich längs der Gletscherketten und der gleißenden Gipfel des Himalaya zu dem berühmten Lama-Kloster von Shigatse, dessen Besuch mir 1981 verweigert worden war. In zwischen sind in der gewaltigen, stufenförmig angelegten Tempel anlage die Verwüstungen der Kulturrevolution und ihrer Rotgar disten beseitigt, und das erbauliche klösterliche Leben der Bonzen ist – auf den ersten Blick – wiederhergestellt. Nicht von ungefähr befindet sich auch hier eine respektgebietende Kaserne der Volks befreiungsarmee in unmittelbarer Nachbarschaft.
Breite Autobahnen schlängeln sich zwischen Abgründen und überhängenden Felswänden. In den flachen Regionen des Hoch landes, wo seinerzeit nur Yak- und Schafherden der Nomaden wei deten, ist mit Hilfe von Staudämmen Agrarland geschaffen worden. In der rauhen Steppe von einst werden jetzt Getreide, Raps, Citrus früchte und sogar Reis angebaut. Den eisigen Stürmen begegnet man mit der Anpflanzung weit ausgedehnter Forstgebiete. Auch In dustrieanlagen sind aus dem spröden Boden gewachsen.
Es entstanden langgezogene Straßensiedlungen in rein tibeti schemStil, und über ihren Dächern wehen – unter Verzicht auf die blutrote Flagge der Volksrepublik – die bunten Gebetsfahnen des tibetischen Glaubens. Mag sein, daß es sich dabei um eine asiatische Abart von Potemkinschen Dörfern handelt, die längs der belebten Straße nach Shigatse dem fremden Besucher den wachsenden Wohlstand der einheimischen Bevölkerung und kulturelle Harmonie zwischen den Rassen vorgaukeln sollen. Aber ohne Zweifel hat in Tibet eine grandiose Aufbauleistung stattgefunden, und diesem Gebirgsvolk, das früher in Not und Hunger ein kümmerliches Dasein fristete, eine für alle spürbare Anhebung ihres Lebensniveaus beschert.
Ob damit die Zustimmung der Bevölkerung, eine wachsende Loyalität gegenüber der Protektoratsmacht in Peking erreicht wird, bleibt jedoch mehr als zweifelhaft. Es ist ja nur eine Frage der Zeit, bis die spärliche Urbevölkerung durch die massive Einwanderung von Han-Chinesen zur pittoresken Minderheit reduziert wird, wie das in der Inneren Mongolei, ebenfalls eine Autonome Region, die zwischen Mandschurei und Gobi einen riesigen Halbmond bildet, bereits eingetreten
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