Die Angst des wei�en Mannes
Anstelle der Baracke, die einst als Airport diente, ist einejener eleganten Luxusanlagen entstanden, mit denen inzwischen alle größeren chinesischen Provinzstädte ausgestattet sind. Die Anfahrt zu unserer damaligen Behausung, einer bescheidenen Herberge, hatte ich nicht so lange in Erinnerung. Wir benutzen die vierspurige, perfekte Autobahn auf einer Strecke von über siebzig Kilometern.
War mir Lhasa seinerzeit als eine begrenzte Ansammlung nied rig geduckter Wohnstätten in gebührendem Abstand von dem ge waltigen, alles beherrschenden Potala-Palast erschienen, so haben sich jetzt moderne Zweckbauten bis in die unmittelbare Nachbar schaft dieser immer noch imponierenden Burg des Dalai Lama ge drängt. Ringsum herrscht geschäftiges Treiben, und mir fällt auf, daß die chinesischen Inschriften in größeren Zeichen ausgeführt sind als die darunter befindlichen Hinweise in tibetischer Sprache.
Meiner Gefährtin Fangyi hat sich gleich nach der Ankunft ein tibetischer Reiseführer zugesellt. Dessen Gesicht ist aufgrund der rauhen Höhenlage in ähnlich rötlicher Bronzefarbe getönt, wie man sie bei den indianischen Andenvölkern in Lateinamerika an trifft. Er stellt sich als Wang Chuk vor und drückt sich in kaum ver ständlichem Englisch aus. Die Chinesin und der Tibeter verkehren höflich miteinander, aber irgendwie spüre ich, daß sie zwei verschie denen Welten angehören.
Das Luxushotel Jingcheng, in dem ich ein supermodernes, etwas unpersönlich wirkendes Zimmer beziehe – auf dem großen Flach bildschirm kann ich sogar, wie ich sofort nachprüfe, ausländische Sender, darunter CNN, empfangen –, ist leider abseits von der gro ßen Durchgangsstraße in einem Hinterhof gelegen. Mit etwas Wehmut erinnere ich mich an meine karge Unterkunft des Jahres 1981, die weit außerhalb von Lhasa lag, vor deren Brüstung jedoch der vierzehn Stockwerke hohe weiße Palast des Gottkönigs in ein samer Herrlichkeit wie eine exotische Gralsburg aus dem Morgen nebel auftauchte.
Es besteht kein Zweifel, daß sich die Pekinger Volksrepublik, nachdem der Verwüstungswahn der roten Kulturrevolution die meisten Klöster zerstört, die rot gewandeten Lamas auf grausame Weisegequält und unersetzliche Kleinodien vernichtet hatte, zu einer gewaltigen Wiederaufbau- und Modernisierungsleistung aufgerafft hat. Es wehen zwar überall die roten Fahnen Mao Zedongs mit den fünf Sternen, aber auch die bunten Tuchfetzen, die, an langen Stangen befestigt, durch ihre ständige Bewegung im Wind die buddhistischen Gebetsformeln unaufhörlich wiederholen sollen – ähnlich, wie das bei den Gebetsmühlen in den Händen der Gläubigen der Fall ist –, ragen hoch auf.
Lhasa ist zu einer recht banalen Stadt geworden. Die inbrünstige Frömmigkeit scheint sich auf das eng verschachtelte alte Gassenge wirr zu konzentrieren. Aus ihm leuchtet das goldene Dach des ehr würdigsten tibetischen Heiligtums, des 1300 Jahre alten Jokhang-Tempels, wie ein Magnet heraus, der weiterhin Scharen von Pilgern anzieht. Die frommen Jünger Gautamas haben meist beachtliche Entfernungen zurückgelegt und – immer wieder lang auf dem Bo den ausgestreckt – sich mühselig fortbewegt. In tiefer Ehrfurcht umkreisen sie die mystische Weihestätte in unermüdlicher körper licher Anstrengung.
Ich bin wohl an diesem Tag der einzige Europäer, der in dem La byrinth von Altären verweilt und sich von den unzähligen Darstel lungen von Buddhas und Bodhisattvas beeindrucken läßt. Die im mer noch zahlreichen, in ständiger Bewegung befindlichen Mönche nehmen keine Notiz von mir, und ich bewege mich laut Vorschrift im entgegengesetzten Uhrzeigersinn um die Statue des Buddha Shakyamuni. Das Kunstwerk aus purem Gold hatte der Überliefe rung zufolge die Prinzessin Wen Cheng aus der chinesischen Tang-Dynastie als Hochzeitsgeschenk mit sich geführt, als sie den dama ligen tibetischen König Songtsen Gampo heiratete.
Ich erwähne diese Episode nicht, um mich einer ausführlichen Tibet-Beschreibung zu widmen, zu der mir die Voraussetzungen fehlen, sondern weil die heutigen Machthaber in Peking mit dieser Eheschließung ihren Anspruch auf die Einverleibung Tibets in die Volksrepublik begründen. Die Besitznahme, die Kaiser Qian Long um die Mitte des achtzehnten Jahrhunderts vornahm, erscheint daneben als ein weniger romantisches, dafür aber realpoli tischgewichtiges Argument für die Erweiterung des Reichs der Mitte bis zum Himalaya.
In den zahllosen Buden und Läden im
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