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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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ungehemmten Import und Konsum des Rauschgiftes zu öffnen, das die britische East India Company auf ihren Plantagen in Indien produzierte. Den englischen Händlern ging es darum, das Handels defizit, das vor allem durch den Ankauf von chinesischem Tee und chinesischer Seide entstand und sich laufend zu Ungunsten der Bri ten vergrößerte, dank des tödlichen Kompensationsgeschäftes aus zugleichen.
    Bei dieser Gelegenheit war den Söhnen des Himmels zum ersten Mal ihre groteske militärische Unterlegenheit vor Augen geführt worden. Aber es sollte ein volles Jahrhundert vergehen, ehe die kommunistischenUmstürzler, auf die revolutionäre Inbrunst ihrer Volksbefreiungsarmee gestützt, die letzten Spuren dieser Unterjochung auslöschten.
    Schneller noch als der Absturz in eine schändliche Unterwürfig keit, die durch die Greuel der japanischen Besatzung vor Ausbruch des Zweiten Weltkrieges ins Unerträgliche gesteigert wurde, hat sich dann das fulminante Wiedererstarken des Reiches der Mitte vollzogen. Der Westen mag vor allem die erbarmungslose kommu nistische Tyrannei und deren fürchterliche Hekatomben der Revo lution Mao Zedongs in Erinnerung behalten. Die Masse der heute lebenden Chinesen bewertet diesen radikalen Umbruch als positive geschichtliche Leistung. Mao schuf die Voraussetzungen dafür, daß die von ihm gegründete, von Deng Xiaoping gründlich reformierte Volksrepublik sich neuerdings anschickt, die Vereinigten Staaten von Amerika aus ihrer hegemonialen Rolle als einzig verbliebene Supermacht zu verdrängen.
    Wer sich heute über die Annexion und Gleichschaltung Tibets durch Peking entrüstet, sollte zudem bedenken, daß die Qing-Dy nastie schon im Jahr 1720 ihr Protektorat über das Dach der Welt verhängte. Wenn in der Folge der bizarre Mönchsstaat der Dalai Lama nicht dem britischen Empire angegliedert wurde, das über den Himalaya nach Norden ausgriff, so war das lediglich dem Er lahmen jenes »great game« zu verdanken, das sich London und Sankt Petersburg in schwindelnder Gletscherhöhe um die Kon trolle Zentralasiens lieferten.
»Dem Volke dienen!«
    Lhasa, im Juni 2007
    Am Flugplatz Lhasa wartet eine Gruppe von Mädchen in der tibe tischen Schürzentracht, um den Reisenden, die aus Xian ankom men, einen weißen Seidenschal um den Hals zu winden. Es ist die gleicheGeste, mit der auch der Dalai Lama seine Gäste und Gesprächspartner ehrt. Ich nehme allerdings an, daß die von ihm überreichte Gabe in kostbarerer Qualität gewoben ist. Jedenfalls sollte bei den Ankömmlingen der Eindruck erweckt werden, daß die Autonome Region Tibet auch unter der Souveränität der Chi nesischen Volksrepublik ihre eigenen Riten und Bräuche beibehält.
    Als Begleiterin und Dolmetscherin hat sich mir in Xian eine junge, attraktive Chinesin namens Fangyi Tian zugesellt. Mit ihrem modisch geschnittenen Pagenkopf und der hellen Elfenbeinhaut verkörpert sie die junge, ehrgeizige Aufsteigergeneration, die sich in gewähltem Mandarin ausdrückt. Um ihre Deutsch- und Eng lischkenntnisse ist es leider nicht so gut bestellt, aber sehr schnell kommt zwischen uns – bei aller Distanz, die sie wahrt – spontane Sympathie auf.
    Ursprünglich hatte ich die Reise nach Lhasa mit jener Eisenbahn zurücklegen wollen, die die chinesischen Planer – allen Einwänden ausländischer Experten zum Trotz – erfolgreich über eine lange Permafrost-Strecke in die Höhe von 5000 Metern geführt hatten, eine Leistung, die die Bundesbahndirektion schwerlich erbringen könnte. Aber über das Abteil, das ich für mich allein reserviert hatte, um nicht dem fröhlichen Lärm chinesischer Familien ausgesetzt zu sein, war offenbar in Peking anderweitig verfügt worden. Doch ich sollte, wie man mir zusicherte, bei meiner Rückkehr von Lhasa nach Peking dieses Wunderwerk der Technik benutzen können.
    Die Mehrzahl der Ankömmlinge waren chinesische Touristen, wie sich an ihrem Outfit erkennen ließ. Sie erwarben gleich nach Ankunft eine Anzahl Sauerstoffbehälter aus Blech und hielten die Nase an deren Plastiköffnung. In 4000 Meter Höhe war das keine überflüssige Vorbeugung, wie ich selbst an meinem erschwerten Atmen feststelle. Die tibetische Hauptstadt Lhasa ist mir nicht un bekannt. Ich hatte sie bereits im Sommer 1981 dank einer seltenen Genehmigung aufsuchen können und war damals vor meinem Ab flug aus Chengdu auf meine Höhentauglichkeit getestet worden.
    In knapp dreißig Jahren hat sich auf dem Dach der Welt so manches verändert.

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