Die Angst des wei�en Mannes
Armageddon gipfeln, jener grauenhaften Prüfung und quälenden Vorstufe der Läuterung, bevor der Himmel sich öffnet für die Parusie des Messias, Mehdi oder des Buddha Shakyamuni. Es bestehe doch eine eigenartige Parallelität zwischen den endzeitlichen Hinweisen der jüdischen Kabbala,der chiliastischen Erlösungserwartung der protestantischen Evangelikalen in USA, zwischen der schiitischen Mystik der »Hodschatiyeh«, der auch der jetzige iranische Präsident Ahmadinejad nahestehe und die alles Heil von der Wiederkehr des Verborgenen Zwölften Imam erwartet, zu gewissen geradezu apokalyptisch anmutenden Schreckensvisionen des tibetischen Tantrismus. In diesem Punkt habe sich die theologische Interpretation der Mönchsgemeinschaften von Lhasa und Shigatse weit von dem erhabenen Prinzip der »Ahimsa«, des Gewaltverzichts, entfernt, das der authentischen Lehre Gautamas im Westen so viele Junge zutreibe.
Wir plauderten anschließend noch eine Weile über geopolitische und strategische Zustände in Zentralasien, bevor wir uns, dem chi nesischen Brauch entsprechend, nach dem letzten Bissen unverzüg lich, fast grußlos trennten. Fangyi und Wang Chuk hatten sich wäh rend der sprunghaft verlaufenen Unterhaltung jeder Äußerung enthalten.
Am Flughafen von Lhasa verabschiedete sich Wang Chuk am folgenden Tag mit einer buddhistischen Sutra, die dem Namen »Shambhala« eine hintergründige Bedeutung verlieh. Ob er damit auf meine rastlose Reisetätigkeit anspielen wollte? In dem Sakral text hieß es: »Ein meditierender Mensch gewinnt eine ganz beson dere Sicht der Dinge. Der eilfertige Reisende gewinnt einen ganz anderen Standpunkt. Es gibt so viele unterschiedliche Deutungen. Welches ist die wahre? Ein Mensch, der auf der Suche nach Shambhala durch die Welt reist, kann diese Erleuchtung kaum fin den. Aber das bedeutet nicht, daß Shambhala nicht entdeckt wer den kann.«
DerWahn vom Himmlischen Frieden
Peking, im August 2007
Der Flug von Lhasa nach Peking, der quer über das Yangtse-Be cken von Szetschuan führt, hat mich für die versäumte Eisenbahn strecke entschädigt. Die ungeheuerlichen Felsmassen, die in schwarzer Zerklüftung unter der Maschine abrollen – das Quell gebiet des mir so vertrauten Mekong-Stroms –, sprengen alle Vor stellungen, die uns aus Europa vertraut sind. Die bizarren Klein staaten, die hier zwischen den beiden Giganten China und Indien eingeklemmt liegen, laufen jederzeit Gefahr, von diesen überdi mensionalen Machtblöcken zermalmt zu werden. Die Japaner wa ren im Zweiten Weltkrieg gut beraten, vom Durchbruch auf den Verwaltungssitz Chongqing, wohin sich ihr nationalchinesischer Gegner Tschiang Kaischek zurückgezogen hatte, abzusehen. Zwi schen diesen brodelnden Klüften und Abgründen war an ein mili tärisches Vordringen nicht zu denken.
Was wird in fünfzig Jahren von Tibet und seinen hintergründi gen Mythen übrigbleiben? Die Gesamtzahl dieses Volkes, dessen Siedlungsraum weit über die ihm zugewiesene Autonome Region hinausreicht, wird auf annähernd sechs Millionen beziffert. Was vermag eine solche Minderheit gegen die erdrückende Kohäsion von mehr als einer Milliarde Han-Chinesen? Am Ende dürften ein folkloristisches Museum und eine faszinierende Spurensammlung für Ethnologen stehen.
Bei der Bewertung der gelegentlichen Aufsässigkeit diverser Fremdvölker, die dem Reich der Mitte einverleibt wurden, gehen die Europäer von völlig falschen Prämissen aus. Dem Abendland kann es nicht gleichgültig sein, ja es stellt sich die nackte Überlebensfrage, wenn – um nur diese Beispiele zu erwähnen – die Zahl der Algerier zwischen 1960 und 2000 von acht auf dreißig Millionen, die der Iraker zwischen 1950 und 1990 von fünf auf 25 Millionen hochgeschnellt ist, während der eigene Bevölkerungsstand nur durch den unablässigen Zustrom außereuropäischer Migranten auf dembisherigen Niveau gehalten wird. Für die außereuropäischen großen Siedlungsgebiete der weißen Menschheit – Nordamerika und Sibirien zumal – gelten ähnlich düstere Perspektiven.
Vor zweihundert Jahren waren die europäischen Kolonialmächte noch zutiefst davon überzeugt, ihnen sei der göttliche Auftrag er teilt, den in barbarischer Rückständigkeit und Willkür dahindäm mernden Völkern Asiens und Afrikas die erlösende Botschaft des Christentums oder der Aufklärung zu vermitteln. Rudyard Kipling bezeichnete diese zivilisatorische Mission als »Bürde des weißen Mannes«.
Mit einem
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