Die Angst des wei�en Mannes
es sich um die höchste Offenbarung revolu tionärer Weisheit.
Perfektes Beispiel einer gezielten Irreführung: Das berühmte Heldenbild des mutigen jungen Mannes mit der weißen Fahne, der sich einem riesigen Panzer der Volksbefreiungsarmee in den Weg stellt und – wie jeder annehmen mußte – unmittelbar danach von dessen Ketten zermalmt wurde. Die ernüchternde Wirklichkeit dieser Szene ist in einem Filmstreifen festgehalten worden, den man dem Massenpublikum des Westens wohlweislich vorenthielt. Der furchterregende Tank hat nämlich mehrfach versucht, an dem Fahnenträger vorbeizumanövrieren und blieb dann reglos stehen. Diese Gelegenheit benutzte der beherzte junge Mann, um mit seiner weißen Fahne das gewaltige Fahrzeug zu erklimmen, aber in dem Moment löste sich aus der Schar der Zuschauer eine kleine Gruppe – offenbar keine Polizisten, sondern Freunde oder Sympa thisanten–, um den jungen Mann freundschaftlich unter die Arme zu nehmen und mit ihm – dem Zugriff der Häscher entgehend – in der Anonymität der Masse unterzutauchen.
Der prekäre Auftrag des Himmels
Einem hochrangigen Funktionär des Olympischen Komitees ist der geniale Gedanke gekommen, in Zukunft sollten die weltum spannenden sportlichen Wettkämpfe nur in Staaten ausgetragen werden, die den Ansprüchen von Menschenrechten und westlicher Demokratie entsprechen. Damit würde jedoch die Zahl der qua lifizierten Veranstalter auf eine extrem bescheidene Anzahl der sogenannten Völkerfamilie reduziert. Das Atlantische Bündnis sollte sich nicht länger um die Erkenntnis herumstehlen, daß nicht nur gewisse Prozeduren des Parlamentarismus ihre Fragwürdig keit offenbaren, sondern daß der pauschale Begriff »Demokratie«, der im klassischen Griechenland alles andere als einen Idealzustand menschlichen Zusammenlebens definierte, einer globalen Erosion ausgesetzt ist. Um nur ein griffiges Beispiel zu erwähnen: In Schwarzafrika ist die tribalistische Bindung und Verpflichtung das oberste und exklusive Gesetz politischen Kräftemessens.
Bei der überwiegend negativen Berichterstattung deutscher Politiker und Publizisten über die Entwicklung in der Volksrepublik China dürfte neben einer schwärmerischen Präferenz für Indien vor allem die Tatsache den Ausschlag gegeben haben, daß Peking im Begriff steht, die Bundesrepublik wirtschaftlich und industriell zu überholen, ihr den Rang der bedeutendsten Exportnation streitig zu machen, auch wenn die Qualität chinesischer Produkte oft noch zu wünschen übrigläßt. Aber auf Dauer werden sich die als beleidigte Verlierer auftretenden Industriellen aus Europa und Amerika nicht damit herausreden können, die Erben Mao Zedongs seien zwar unübertreffliche Meister der Nachahmung, aber zu eigener Kreativitätnur in geringem Maße befähigt. Mit solchen Behauptungen versucht man, unser Wissen um das erfinderische Genie zu verdrängen, das dem Reich der Mitte zwei Jahrtausende lang gegenüber dem Abendland einen deutlichen Vorrang verschaffte.
Noch versteifen sich die Auguren des Westens auf die Behaup tung, daß sich der asiatische Gigant nur unter Verzicht auf seine so zialistische Ideologie zu einer rüden Form des Frühkapitalismus durchgerungen habe, wie er von Dickens im viktorianischen Eng land oder von Émile Zola in den Grubenrevieren Nordfrankreichs geschildert wurde. Inzwischen haben die völlig unerwartete Finanz krise des Jahres 2008 und die drohende Rezession in der Realwirt schaft die extreme Fragilität der angelsächsisch-calvinistisch ausge richteten Finanzkonzepte bloßgelegt. In der breiten Öffentlichkeit des Westens kommt der Verdacht auf, daß die jüngsten Auswüchse des spekulativen Vabanquespiels den Anforderungen einer anfangs überschwenglich gepriesenen Globalisierung nicht gewachsen sind.
Wer hätte vor zehn Jahren vorauszusagen gewagt, daß New York und London das Heil ihrer Börsen in der Verstaatlichung einiger Großbanken suchen würden, daß die unbegrenzte Wachstums-Eu phorie der Friedman-Schule und ihrer Chicago Boys mit einem Schlag recht altmodisch aussehen würde, während eine Rückwen dung zu John Maynard Keynes und seiner These des »deficit spen ding« neuen Zuspruch gewänne?
Geradezu demütigend für die europäischen Hasardeure der »New Economy« ist die Tatsache, daß der ungebrochene Wirt schaftsaufstieg Chinas weit weniger durch die allgemeine Ratlosig keit und Katastrophenstimmung betroffen war als die Systeme der übrigen großen
Weitere Kostenlose Bücher