Die Angst des wei�en Mannes
chinesischen Zivilisten irgendeinem Polizei- oder Sicherheitsapparat angehört. Im Ge dächtnis des durchschnittlichen Bürgers der Volksrepublik ist die von Studenten angeführte Demokratiebewegung vom Frühjahr 1989, die in dem Massaker auf dem Tien An Men am 4. Juni ein blu tiges Ende nahm, nur noch eine vage und zudem zwielichtige Erin nerung. Die politische Stabilität unter der strikten Überwachung der Einheitspartei, die sich danach einstellte, die atemberaubende wirtschaftliche und technische Erfolgsstory, die das Reich der Mitte beflügelte, die stete Anhebung des Lebensniveaus und – last but not least – der allmähliche Aufstieg der Volksbefreiungsarmee zu einer Kapazität, die die bisherigen Supermächte beunruhigt und mit ih rer Kosmonautik längst die Schallmauer durchbrochen hat –, all das wiegt unendlich schwerer als die hektischen Krawalle von 1989, die vorübergehend im Westen die Hoffnung weckten, die Volksrepu blik China könne in einen Zustand pseudodemokratischer Unord nung, industriellen Versagens und strategischer Machtlosigkeit zu rückfallen.
Ichwar seinerzeit nach Peking geeilt, um mir zwei Tage nach der Niederschlagung dieser im Westen so überschwenglich gefeierten »Konterrevolution« ein eigenes Urteil zu bilden. Gewiß, auch ich hatte Sympathien empfunden für die jungen Aufrührer und Idea listen, die sich im Namen eines Freiheitsbegriffs, den sie selbst nicht zu definieren vermochten, in ein Abenteuer stürzten, an des sen Ende – laut Amnesty International – etwa neunhundert Tote zu beklagen waren.
Aber in der Zwischenzeit haben sich von Bogotá bis Algier un endlich grausamere Tragödien abgespielt, und die sind von der flammenden Wut der professionellen Menschenrechtler weitge hend verschont geblieben. Bei manchen allzu selbstherrlichen Phil anthropen kommt mir das französische Zitat in den Sinn: »L’ami du genre humain n’est l’ami de personne – Der Freund des Men schengeschlechts ist niemandes Freund.«
Was wäre denn die Alternative gewesen, wenn sich die »Refor mer« durchgesetzt hätten? Die Partei und die Volksbefreiungs armee hätten ebenso nachhaltig gegen den Ausbruch einer »weißen Kulturrevolution« und die damit verbundenen Bürgerkriegszu stände eingreifen müssen wie einst gegen die exzessiven Ausschrei tungen der Rotgardisten, die Mao mit seiner Order »Bombardiert das Hauptquartier!« aufgeputscht hatte. Nach deren Zügelung und Disziplinierung waren – vorsichtigen Schätzungen zufolge – fünf Millionen Todesopfer zu beklagen gewesen.
Der kritische Höhepunkt, der den damaligen starken Mann im Zhongnanhai, Deng Xiaoping, und den unerbittlichen Regierungschef Li Peng geradezu zwang, gegen den zunehmend gewalttätigen Aufruhr am Platz des Himmlischen Friedens mit Waffengewalt vorzugehen, war erreicht, als eine plumpe Kopie der amerikanischen Freiheitsstatue das Tor zur Verbotenen Stadt verstellte und die revoltierende Masse dem aus Moskau herbeigeeilten Michail Gorbatschow, einem Experten für Staatsauflösung und Chaosstiftung, den Zugang zum Großen Volkspalast versperrte. Der Generalsekretär der KPdSU mußte durch eine Hintertür eingeschleust werden. Dem Politbüro von Peking war die unerträglichste Schmä hungzugefügt worden, die China kennt. Es hatte »das Gesicht verloren«.
Realpolitiker wie Helmut Schmidt oder Henry Kissinger haben sehr bald eingesehen, daß der chinesischen Führung gar keine andere Wahl blieb, als zum Wohl des Staates und des Volkes mit harter Hand durchzugreifen, daß es – um eine zynische Maxime chinesischer Politik zu erwähnen – an der Zeit war, »durch das Schlachten eines Huhns eine Horde Affen zu vertreiben«.
Jeden Vorwurf eines reaktionären Zynismus, den man mir ma chen könnte, weise ich weit von mir, seit ich beobachten konnte, daß sich unter den westlichen »Herolden der Freiheit«, die mit Schaum vor dem Mund das Massaker am Tien An Men verfluchten, ausgerechnet jene Scharlatane und Narren wiederfanden, die sich zwanzig Jahre zuvor mit der »Großen Proletarischen Kulturrevo lution« und ihren blutigen Exzessen solidarisiert hatten. Sie hatten sogar in Peking – zur Erheiterung der Chinesen – die Mao-Mütze mit dem roten Stern aufgesetzt, trugen das Abzeichen mit dem Großen Steuermann stolz auf der Brust und skandierten im Chor Auszüge aus dessen Roter Bibel, jenem einfältigen Text, der ledig lich für die Indoktrinierung unwissender chinesischer Massen kon zipiert war, als handele
Weitere Kostenlose Bücher