Die Angst des wei�en Mannes
ähnlichen Gefühl kultureller Überlegenheit und tech nologischer Brisanz dürften heute die Chinesen den rückständi gen Rassen in ihren Randzonen begegnen und sich rühmen, ihnen den Weg in eine bessere, würdigere Zukunft zu weisen. Seit die höchsten Gremien der Kommunistischen Partei von Peking be griffen haben, daß die von Mao Zedong vorgegebene Richtlinie der »Einkind-Familie« zu gesellschaftlicher Vergreisung und sozialen Engpässen führt, ist die drakonische Geburtenbeschränkung rela tiviert und der normale Wachstumsrhythmus wiederhergestellt worden.
Die aus Amerika und Europa unablässig vorgetragenen Ermah nungen an das Reich der Mitte, sich den westlichen Prinzipien von freier Meinungsäußerung, parteipolitischer Vielfalt und peinlicher Observanz der Menschenrechte unterzuordnen, klingen zuneh mend bizarr und unglaubwürdig. Selbst im Berliner Reichstag dürfte sich allmählich herumsprechen, daß die im Westen geprie sene parlamentarische »Streitkultur«, die sich – unter Vernachläs sigung der wirklich relevanten Probleme – in Debatten über den Mindestlohn von Briefträgern und die Spitzfindigkeiten von Hartz IV erschöpft, nicht einmal mehr den Erwartungen und Bedürfnis sen eines Achtzig-Millionen-Volkes gerecht wird.
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Pekingleidet unter einem besonders grauen, schwülen Sommer tag. Das Palace Hotel, an das ich mich seit Jahrzehnten gewöhnt habe und wo ich mich wohl fühle, hat in den Untergeschossen jene protzigen Luxusboutiquen aus aller Welt eingerichtet, die wohl in keiner halbwegs exklusiven Herberge unserer Tage fehlen dürfen. Gleich an der nächsten Straßenkreuzung ragt eine Super-Mall mit ausschweifender Pracht wie eine Kathedrale des Konsums in den niedrig hängenden Smog. Sie stellt ihre Rivalen und ursprüngli chen Vorbilder der amerikanischen Metropolen in den Schatten.
Da ist es beruhigend, daß ich in einer Nebengasse, die in Rich tung auf die Verbotene Stadt führt, eine bescheidene Reihe von Verkaufsständen finde, wo unter allem nur denkbaren Touristen kitsch auch die großen Männer der Kommunistischen Revolution als Geschirrbemalung und kleine Statuetten wie verblaßte Devo tionalien erhalten sind. Auch das Rote Buch Mao Zedongs ist in al len möglichen Übersetzungen im Angebot.
Was mich frappiert, ist die Indifferenz, mit der die chinesischen Händler mit diesen einstigen Objekten obligatorischer Volksvereh rung umgehen. Der Große Steuermann wird in brüderlicher Ein tracht mit seinem Erzfeind Lin Biao abgebildet, der bei einem ge scheiterten Putsch ums Leben gekommen war. Auch Liu Xaoqi ist als Volksheld wiederauferstanden, nachdem er einst als chinesischer Chruschtschow alle Übel des bürgerlichen Revisionismus verkör pert hatte. Es fehlt im Grunde nur noch Marschall Tschiang Kai schek, der große Gegenspieler der Kommunisten und Verbündete der USA.
Die Chinesen betrachten ihre einstigen Heroen und Bösewichter mit dem skeptischen Abstand einer uralten Nation, die schon so manche Dynastie überlebt hat. Bemerkenswert ist übrigens die Be wertung Mao Zedongs, der zwar unentbehrlich war für die radikale Abkehr von der erstarrten, brüchigen Ordnung der Vergangenheit, aber durch seine politischen Extravaganzen auch unendliches Leid und den Tod von vielen Millionen seiner Untertanen zu verantwor ten hatte. Sechzig bis siebzig Prozent der Chinesen betrachten seine Aktion im Rückblick als insgesamt positiv.
DieseEinschätzung ist zweifellos begründeter als die plötzliche Entdeckung in Ostdeutschland, die Hälfte der Einwohner des ehe maligen Arbeiter-und-Bauern-Staates empfänden das DDR-Sy stem erträglicher als die Zustände in der wiedervereinigten Bundes republik. Da erscheint es schon verständlicher, daß die Mehrzahl der Russen den schmählichen Zusammenbruch der Sowjetunion als ihr größtes nationales Unheil betrachtet.
Da stehe ich also auf dem Platz des Himmlischen Friedens. Das Gedenken an den Großen Steuermann wird hier sehr viel eindring licher durch das riesige Porträt mit der Warze verewigt, das über dem Eingang zur verbotenen Stadt thront, als durch das unförmige Mausoleum, in dem sein einbalsamierter Körper mit apfelrot ge schminkten Wangen ruht. Die Ausmaße dieser Gruft haben die grandiose Harmonie des Tien An Men leider unwiderruflich ver unstaltet.
Die Touristen und Besucher bewegen sich ohne auffällige Kon trolle auf dem riesigen Areal, aber man kann davon ausgehen, daß ein beachtlicher Teil der hier flanierenden
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