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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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selbstbewußten Han-Chinesin Fangyi hatte ich das Gefühl, der mönchische Mummenschanz, die obskurantistische Magie auf dem Dach der Welt, wo wundertätige Gurus per Telepathie miteinander kommunizieren, seien für ihr teils konfuzianisch, teils maoistisch geprägtes Weltbild ohne das geringste Interesse. Gewiß, der Buddhismus hatte, wie der volkstümliche Roman Die Reise nach Westen beschreibt, auch Zugang zum Reich der Mitte gefunden, und jedem Chinesen ist die Märchenfigur des Mönches Xuan Zang bekannt,der in Begleitung des »Goldaffen« auf seiner Wanderung nach Indien so manches Abenteuer bestand.
    Aber die Mahayana-Bräuche, die bei breiten Volksschichten der Han-Rasse starken Anklang fanden, verschmolzen in einem typisch chinesischen Synkretismus sehr bald mit den ursprünglichen Zau berpraktiken des Taoismus zu einem vielfältigen Sammelsurium. Größter Beliebtheit erfreute sich die Figur des lachenden Buddha, der mit strahlendem Gesicht auf seinem von reichem Essen prall gefüllten Bauch weist und von der Askese des Religionsgründers weit entfernt ist. Diese Importreligion aus Indien entsprach im we sentlichen den abergläubischen Bedürfnissen der bescheidenen Gesellschaftsschichten, während die intellektuell und literarisch gebildete Elite des Mandarinats den Schriften und Geboten des Meister Kong absoluten Vorrang einräumte und sich an dessen Ah nen- und Ritenkult orientierte.
    Ich war angenehm überrascht, als wir im Jingcheng-Hotel von einem hochgewachsenen jungen Tibeter abgeholt wurden, der sich durch seinen hellen Teint und sein gewandtes, urbanes Auftreten von der Mehrzahl seiner Landsleute unterschied. Lhundup, wie wir ihn nennen wollen, hatte zwei Jahre in Kalifornien verbracht, sprach ein sehr gutes Englisch und vertrat jenen Typus ideologi scher Unbefangenheit, mit der sich in autoritär regierten Staaten die Angehörigen des Nachrichtendienstes durchaus vorteilhaft von der üblichen Mitteilungsscheu und Verschlossenheit ihrer Mitbür ger unterscheiden. Jedenfalls hatte die geheime Amtsstube, die Lhundup geschickt hatte, einen vorzüglichen Gesprächspartner ausgewählt.
    Das Abendessen fand – das mußte wohl so sein – wieder im »House of Shambhala« statt. Dort wird neben schwer genießbarem Essen auch Yogi-Unterricht, geistliche Erbauung in separaten Räu men geboten. Gelegentlich werden sogar lokale Modekollektionen vorgeführt. »Sie wollen ja nicht gleich mit mir über den Dalai Lama sprechen?« fragte Lhundup scherzhaft und stimmte ein Lachen an, das fast so dröhnend klang wie die Heiterkeit des »Ozeans der Weisheit«.
    Erversuchte gar nicht, die Zustände in seiner Heimat, auch das problematische chinesische Protektorat schönzureden, wie das in den offiziellen Propagandabroschüren üblich war. Er mokierte sich ohne Umschweife über die Fabelbilder, die von so manchen Aben teurern, Hobbyforschern, Spionen und Wirrköpfen aus dem Wes ten entworfen würden, bis hin zu jenen Exzentrikern, die auf dem Dach der Welt eine von der Sintflut verschonte Menschengattung und im Umkreis der Klöster die Spuren einer arischen Urrasse ent deckt zu haben glaubten. »Eines sollten Sie bedenken«, fuhr er mit ernstem Unterton fort, »wenn wir Chinesen nicht unsere alten, or ganischen Bindungen an Tibet wiederaufgenommen hätten, wür den die Inder sich längst mit amerikanischer Hilfe in Lhasa etabliert haben.«
    Der hochgebildete Mann gab mir auch die Erklärung des Wor tes »Shambhala«. Der Weg nach Shambhala führe laut tantrisch buddhistischer Lehre den Erleuchteten zu jenem Ort der Erlösung, des Eingehens in einen immateriellen Zustand des Glücks, der nur durch Verzicht auf alle trivialen Bedürfnisse und Verlockungen des Lebens erlangt werden könne. »Es mag Sie interessieren, daß laut dem Kalachakra-Mantra aus dem zehnten Jahrhundert, dem auch der vierzehnte Dalai Lama anhängt, dieser Zustand der Perfektion, die Verwandlung Shambhalas aus einer mystischen Vision in eine erhabene Wirklichkeit, erst nach einer grauenhaften Phase kosmi schen Zusammenpralls und menschlicher Verderbtheit erreicht werden kann.«
    Offenbar war Lhundup über meine enge Beschäftigung mit dem revolutionären Islam unterrichtet, denn er verwies auf eine seltsame Verwandtschaft der großen Weltreligionen. Immer wieder trete die gemeinsame Vision nach einer Zwischenphase blutiger Wirren auf. Das Auftauchen falscher Propheten oder die höllische Erscheinung des Antichristen werde in der Schlacht von

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