Die Angst des wei�en Mannes
Sache. »Sehr nützlich kann ich dir mit meinen Kenntnissen über die chi nesischen Rüstungsfortschritte nicht sein«, gesteht der britische Kollege. »Aus reiner Freundlichkeit bin ich vor ein paar Wochen zu einem großen Manöver eingeladen worden, bei dem ansonsten nur die Militärattachés der diversen Botschaften zugelassen waren. Die Volksbefreiungsarmee hat uns bei dieser Gelegenheit mit aller Deutlichkeit zu spüren gegeben, daß sie sich nicht in die Karten schauen läßt. Die donnernden Übungen, die uns dort mit fingier ten Panzerschlachten und Artillerieduellen vorgeführt wurden, wa ren so altertümlich und konventionell, als gelte es, noch einmal die Armee Tschiang Kaischeks und seiner Kuomintang zu besiegen. Von irgendeiner Anpassung an den ›asymmetric war‹ der Gegen wart war jedenfalls keine Spur zu entdecken.«
Hingegen ist dem britischen Kollegen von amerikanischer Seite eine Studie zugespielt worden, die vor einem dramatischen Machtverfall der USA warnt, falls es dem Pentagon nicht gelänge, im Ver bund mit den Streitkräften der Indischen Union ein Gegengewicht zu den Ambitionen Chinas herzustellen. Nun neigen die amerika nischen Chiefs-of-Staff seit langem dazu, das zunehmende militä rische Gewicht Pekings ins Gigantische zu steigern, um für den eigenen maßlosen Kreditbedarf die Zustimmung des US-Kongres ses zu erlangen. Derrick erscheint der vorliegende Situationsbericht dennoch interessant, weil er das strategische Schwergewicht vom Atlantik und sogar vom Pazifik weg auf die Fluten des Indischen Ozeans verlagert.
Das Dokument »Marine Corps Vision and Strategy 2025« betont diese Umschichtung mit Nachdruck. Natürlich wird in diesem Zusammenhang auf jene gewaltige Armada verwiesen, die im vierzehnten Jahrhundert zur Zeit der Ming-Dynastie mit ihren riesigen Dschunken alle verfügbaren Flotten jener Zeit bei weitem überragte. Unter dem Befehl des Eunuchen-Admirals Zheng He übte siedie absolute Seeherrschaft zwischen China und Indonesien, Sri Lanka und dem Persischen Golf bis hin zur Ostküste Afrikas aus. Die Vormachtstellung, über die die USA auf sämtlichen Ozeanen noch verfügten, sei zeitlich ebenso begrenzt wie die Allmacht der britischen Royal Navy, die heute eine geringere Feuerkraft aufzubieten habe als die französische Marine Nationale. Die Zahl der amerikanischen Kriegsschiffe sei seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs von 1600 auf etwa 300 geschrumpft. Dem stehe eine rasante Vermehrung der chinesischen Flotte gegenüber.
Die Lobbyisten des militärisch-industriellen Komplexes in Wa shington würden zweifellos weit übertreiben, so meint Derrick, wenn sie der Volksrepublik China binnen einer Dekade eine er drückende maritime Überlegenheit zutrauen. Vor allem der Erwerb von U-Booten übertreffe jedoch das entsprechende amerikanische Potential um das Fünffache. Dazu geselle sich eine formidable Ent wicklung neuwertiger Seeminen, perfektionierter Trägerwaffen und vor allem einer ausgefeilten Computertechnologie, die auf die Lähmung der amerikanischen Kommandosysteme im Falle eines gigantischen Cyber War hinziele.
Diese Kassandra-Rufe werden relativiert durch die Tatsache, daß die chinesische Admiralität noch über keinen einzigen Flugzeug träger verfügt. Doch die Seeschlachten der Zukunft, so vermutet der israelische Militärexperte Martin van Crefeld, werden nicht mehr, wie im Krieg gegen Japan, durch die stählernen Ungeheuer der Air Force Carrier entschieden. Die Gefährdung der Flugzeug träger durch die Entwicklung geräuschloser U-Boote dürfte deren Bedeutung drastisch reduzieren, und der Vergleich mit den briti schen Super-Schlachtschiffen des Ersten Weltkrieges, den »Dread noughts«, die zu keinem sinnvollen Einsatz gelangten, sei ange bracht.
Überschätzt Washington nicht die Bereitschaft Indiens, in die Bresche zu springen, die Delhi durch den Zustand Amerikas als »slowly declining hegemon« zugewiesen wird? Kann Indien ein neues militärisches Schwergewicht bilden in einer »post-American world«? Die forschen Aussagen des indischen Planers Raja Mohan ausdem Jahr 2006 klingen recht anmaßend, wenn er vorgibt: »Indien hat niemals auf eine amerikanische Erlaubnis gewartet, wenn es galt, ein Gegengewicht zu China zu bilden.«
Derrick Turner ist vor einer Landkarte Asiens stehengeblieben, die eine ganze Wand seines Büros ausfüllt. Er äußert sich als erfah rener Beobachter, wenn er von den allzu theoretischen Spekulatio nen der Militärakademien auf
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