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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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aufgelöst und die Stammesstrukturen der großen Horden zerbrochen.
    Im Ersten Weltkrieg verfügte Sankt Petersburg – entgegen allen feierlichen Abmachungen – die Rekrutierung junger kasachischer Männer in die berüchtigten Arbeitsregimenter an der deutschen Front. Als die Nomaden-Clans sich dagegen auflehnten und zum offenen Widerstand übergingen, fand eine gnadenlose Strafaktion statt, die die kasachische Bevölkerung um ein Fünftel reduzierte.
    Nach dem Sturz der Romanow-Dynastie war es Stalin, der den Horror auf die Spitze trieb, als er nach dem Scheitern diverser bol schewistischer Kollektivierungskampagnen, die mittels »Roter Ka rawanen« oder »Roter Jurten« veranstaltet wurden, Mitte der drei ßiger Jahre die Seßhaftmachung, die Sedentarisierung der Hirten und Viehzüchter anordnete. Ein Drittel der einheimischen Bevöl kerung dürfte dem Terror, der die Form eines Genozids annahm, zum Opfer gefallen sein. Die Viehbestände verringerten sich um achtzig Prozent. Eine halbe Million Kasachen flüchteten nach China.
    Was nützte es da diesen leidgeprüften Asiaten, daß ihr riesiges Territorium, das der fünffachen Ausdehnung Frankreichs ent spricht, aber nur 17 Millionen multirassischer Einwohner zählte, im Jahr 1936 zum Rang einer selbständigen Unionsrepublik erho ben wurde? Der Zustrom russischer Neusiedler wurde von Moskau systematisch betrieben. Die Immigration erreichte in den fünfziger Jahren ihren Höhepunkt, als Nikita Chruschtschow die Steppe Nordkasachstans – nach der Ukraine – in die zweite große Korn kammer der Sowjetunion umwandeln wollte.
    Die Vergewaltigung von Natur und Mensch vollzog sich unter hochtrabenden Parteiparolen, die das neue Kasachstan als »Labo ratorium der Völkerfreundschaft«, als »Planet der hundert Spra chen« priesen. Am Ende dieses Leidensweges stellten die authenti schen Kasachen nur noch eine Minderheit von 29 Prozent in ihrer eigenen Heimat dar. Die Russen hingegen waren in der Überzahl. EinJahrhundert zuvor hatte der kasachische Bevölkerungsanteil noch bei neunzig Prozent gelegen.
    *
    Ich logierte im Intourist-Hotel, gegenüber dem Bahnhof. Bei Tag und bei Nacht wurde der Gast aus dem Westen von flüsternden Unbekannten auf den Erwerb einer Bluejeans angesprochen, die in der ganzen Sowjetunion als extravagantes und heißbegehrtes Klei dungsstück geschätzt wurde.
    Schon am frühen Abend schlug in meiner Unterkunft die Stim mung hoch. Eine gemischte Gesellschaft war im Restaurant ver sammelt. Die Musikkapelle spielte ohrenbetäubenden Jazz aus den sechziger Jahren. Russen, Kasachen, Tataren, Georgier, Usbeken saßen scheinbar brüderlich beieinander. Es wurde viel und schwer gegessen. Die Tische bogen sich unter Krimsekt und bulgarischem Wein. Die Wodkaflaschen waren diskret auf den Boden gestellt. Wer sich diese relativ teuren Alkoholika leisten konnte, mußte als Parteifunktionär und Mitglied der »Nomenklatura« über Sonder privilegien verfügen oder sich am Schwarzmarkt bereichert haben. Die tanzenden Paare waren meist säuberlich nach Rassen getrennt. Muslimische Sowjetbürger luden gelegentlich pralle, blonde Rus sinnen ein. Nur ausnahmsweise tanzte ein Slawe mit einer Asiatin.
    Mir fiel ein hochgewachsener russischer Oberleutnant auf. Mit seinen breiten Epauletten, den Schaftstiefeln und dem fast aristo kratisch blassen Gesicht hätte er ein Offizier des Zaren sein können. Er hielt eine ätherische blonde Braut in den Armen: ein unendlich rührendes, altmodisches und verliebtes Paar, das in einem Tsche chow-Stück hätte auftreten können und das hier am Rande der »Tatarenwüste« verbannt und einsam erschien.
    Das Orchester intonierte plötzlich mit wildem Getöse einen Schlager, der damals auch in der Bundesrepublik extrem populär war. »Dsching Dsching Dschingis Khan«, so begann der Text, den der armenische Schlagzeuger auf Deutsch vortrug. »He Reiter, he Reiter, immer weiter … auf Brüder, rauft Brüder, sauft Brüder … DschingDsching Dschingis Khan … Er zeugte sieben Kinder in einer Nacht …«
    Die asiatischen Gäste waren wie ein Mann aufgesprungen, stürz ten sich auf die enge Tanzfläche und führten einen stampfenden, barbarischen Reigen auf, als seien sie tatsächlich kriegerische Ge folgsleute des großen mongolischen Eroberers, der der Historie zufolge Pyramiden von Schädeln errichten ließ und die Vergewal tigung der Frauen seiner Feinde genoß. Jede Unterhaltung war un möglich geworden, solange die Steppenmenschen

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