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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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Fahnentuchs verschmilzt mit der Farbe des wolkenlosen Himmels.
    Die goldene Sonne dieses Fanals wies im dreizehnten Jahrhun dert den unbezwingbaren Horden des Mongolenfürsten Temud schin, Dschingis Khan genannt, und seinen Erben die Route eines grauenhaften Vernichtungsfeldzuges. Am Ende waren Persien und Mesopotamien unterworfen und verwüstet. Dem chinesischen Drachenthron hatten die mongolischen Eroberer die Yuan Yuan aufgezwungen, und das ganze Heilige Rußland – bis hin zu den Pripjet-Sümpfen – war für die Dauer von fast drei Jahrhunderten unter das »Tatarenjoch« gezwungen und der Willkür des Groß-Khans der »Goldenen Horde« ausgeliefert. Heute singt niemand mehr in Kasachstan das plötzlich bedrohlich klingende Lied von den apokalyptischen Reitern, die – aus der Tiefe Asiens auftau chend – »um die Wette ritten mit dem Steppenwind«.
ErsteSignale der Auflösung
    Almaty, im Dezember 1992
    Der Zerfall der Sowjetunion wird trotz aller mehr oder minder plausiblen Erklärungen von Rätseln umgeben bleiben. Nach einer Periode gelähmter Greisenherrschaft, der Gerontokratie des Kreml, die mit der fortschreitenden Agonie Leonid Breschnews zur Paralyse des Staatsapparates führte, wurde in der Person Mi chail Gorbatschows ausgerechnet jenes Politbüro-Mitglied zum Hoffnungsträger der Erneuerung berufen, das sich für diese gigan tische, aber zweifellos realisierbare Aufgabe als total ungeeignet er wies.
    Über den seltsamen Putschversuch einiger reaktionärer Parteive teranen, die sich teilweise in stark alkoholisiertem Zustand der in ternationalen Presse stellten, während der Generalsekretär der KPdSU angeblich ohne jeden Kontakt mit Moskau, gewissermaßen als »incommunicado« seine Ferien in einer Staatsvilla auf der Krim verbrachte, sind weiterhin die widersprüchlichsten Verschwörungs theorien im Gange. Ebenso undurchdringlich waren die Befehls strukturen, die es Boris Jelzin, dem selbsternannten Präsidenten einer wiedererstandenen rußländischen Föderation, erlaubten, die Tamanskaja-Division zu veranlassen, das Feuer ihrer schweren Pan zerkanonen auf das eigene Parlament zu richten.
    Wie sollte da erst eine plausible Analyse erstellt werden für den abrupten Sezessionsvorgang, der über die zentralasiatischen Republiken der Sowjetunion hereinbrach, wo – im Gegensatz zu den turbulenten Vorgängen im Südkaukasus, in Baku, Tiflis und Eriwan – eine trügerische Stabilität andauerte? Die französische Autorin Hélène Carrère d’Encausse hat in den frühen achtziger Jahren mit ihrer Voraussage sowjetischen Machtverfalls – »L’empire éclaté«, Das zerplatzte Imperium – die Rußlandexperten zu mitleidigem Lächeln gereizt. Tatsächlich haben sich ihre Prognosen nur sehr partiell bewahrheitet, denn die Auflösung der Sowjetmacht ging nicht, wie sie meinte, von den peripheren, fremdrassigen Republi ken aus.Die neue »Smuta«, die neue »Zeit der Wirren«, nahm im Moskauer Zentrum der KPdSU ihren Ursprung.
    Der Zerfall war zunächst eine interne russische Angelegenheit, eine wohl unausweichliche Folge von Glasnost und Perestroika. Zu jener Zeit des Umbruchs unter der Ägide Michail Gorbatschows verharrte die Nomenklatura der überwiegend islamischen Teilre publiken noch in starrer kommunistischer Obedienz. Sie trauten ihren Ohren nicht, als der Machtkampf im Kreml alle bisherigen politischen und territorialen Gewißheiten über Bord warf. Ausge rechnet in Kasachstan, in der trägen Provinzstadt Alma Ata, hatten jedoch schon im Dezember 1986 gewaltsame Protestaktionen, an tirussische Ausschreitungen stattgefunden, die einen ersten Hin weis auf eventuelle Sezessionsbestrebungen in den zentralasiati schen Randgebieten lieferten.
    Bis 1956 war der hohe Posten des Ersten KP-Sekretärs von Ka sachstan durch reinrassige Russen besetzt gewesen. Der letzte von ihnen hieß Leonid Breschnew. Dann wurde als Nachfolger ein Kasache berufen, Din Muhammad Kunajew, der sich mit kurzer Unterbrechung bis 1986 an der Spitze der lokalen »Partokratie« behauptete. Kunajew genoß – wie sein usbekischer Gefährte Ra schidow – die uneingeschränkte Gunst des Generalsekretärs Leonid Breschnew. Dem mächtigsten Mann der Sowjetunion wurde zwar verdächtige Komplizenschaft mit den von ihm berufenen ro ten Parteibonzen Zentralasiens und sogar finanzielle Vorteilnahme vorgeworfen, aber er besaß ein instinktives Gespür für die tatsäch lichen Verhältnisse, für die unverzichtbaren Überlieferungen die ses

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