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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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exotischen Teils seines Imperiums.
    Breschnew klammerte sich nicht an die überkommene Praxis großrussischer Allmacht, sondern übertrug die Verantwortung – in einem kaum wahrnehmbaren Dekolonisationsprozeß, dessen er sich vermutlich gar nicht bewußt war – bewährten asiatischen Kommunisten. Die verstanden es, die ererbten Clan- und Stammesstrukturen in den Dienst der marxistisch-leninistischen Ideologie zu stellen. Gleichzeitig setzten sie sich für die Interessen ihrer Landsleute und Stammesbrüder ein, ja sie übten Nachsicht, wenn esum das Überleben islamischer Bräuche ging. Dem System des »kommunistischen Khanats« war es zu verdanken, daß sich eine feudalistisch anmutende Teildespotie in Mittelasien bis zum Jahr 1986 konsolidierte und die zentrale Parteiführung in Moskau ruhig schlafen ließ. Mit Vetternwirtschaft und Bestechung ließ sich sowjetische Ordnung schaffen.
    Erst Michail Gorbatschow sollte auf Wandel drängen, und er ging bei seinen Reformbestrebungen in Asien mit der gleichen Ignoranz gegenüber den realen Verhältnissen, mit vergleichbarem Dilettantismus vor wie bei der gescheiterten Bewältigung der an stehenden gesamtsowjetischen Schicksalsfragen. Auf Befehl Gor batschows wurde der korrupte Erste Sekretär Din Muhammad Ku najew entthront, die berüchtigte »Kunajewtschina« abgeschafft und an die Parteispitze Kasachstans ein geradliniger russischer Funktionär, Gennadi Kolbin, berufen.
    Damit hatte Gorbatschow einen gravierenden Fehler begangen. Völlig unerwartet entbrannte nationalistische Leidenschaft unter den Kasachen, vor allem unter den Studenten, die lieber von einem einheimischen Gauner als von einem ehrlichen Fremdling regiert werden wollten. Es kam zu den erwähnten Straßenschlachten zwi schen Studenten und Ordnungskräften. Auf beiden Seiten gab es Tote und Verletzte. Moskau sah sich genötigt, Kolbin abzuberufen und durch den kasachischen Funktionär Nursultan Nasarbajew zu ersetzen. Als im Oktober 1992 die Sowjetrepublik Kasachstan ihre Unabhängigkeit ausrief, wurde der Tag des Studentenaufruhrs von 1986, der 16. Dezember, zum Nationalfeiertag proklamiert. Dem Glasnost-Experiment Gorbatschows war es zu verdanken, daß zum ersten Mal der Schleier heuchlerischer Brüderlichkeit zwischen den diversen Sowjetvölkern zerriß und eine ganz andere Wirklichkeit zutage trat.
    Auch Boris Jelzin trug sein gerüttelt Maß Verantwortung an diesem beispiellosen Staats-Suizid, dem sich ein ideologisch gefestigtes, über ein immer noch ungeheures Potential verfügendes Imperium auslieferte, als er nach Ausrufung einer russischen Föderation die slawischen Schwesterrepubliken Ukraine und Belarus in ein Jagdschloßbei Brest an der polnischen Grenze einlud, um sich mit ihnen zu einem gesonderten Staatenbund zusammenzuschließen. Erst als Reaktion auf dieses europäische Zusammenrücken der Völker christlich-orthodoxer Tradition haben sich dann auch – als Gegenschlag gewissermaßen – die ursprünglich muslimischen Teilrepubliken Zentralasiens unter Anleitung ihrer jeweiligen Chefsekretäre der KPdSU in der turkmenischen Hauptstadt Aschchabad getroffen und eine Entwicklung eingeleitet, die am Ende in uneingeschränkte Souveränität dieser Emirate und Sultanate einmündete.
    *
    Mit zwei Angehörigen der deutschen Botschaft hatte ich mich an diesem trüben Dezembertag 1992 in einer seltsamen Kaschemme verabredet, die den Ruf exotischer Exklusivität genoß. Der Besit zer oder Pächter, ein Sohn der Abruzzen, bereitete mit finsterer Miene ungenießbare Pizzas und Nudelgerichte zu. Der Wein, der angeblich aus Italien stammte, schmeckte sauer. Draußen war es neblig und kalt. Die nahen Gebirgsriesen, die schneebedeckten Alatau-Gipfel und die Tien-Shan-Kette, die bereits den Übergang nach China versperrt, hatten sich in Dunst aufgelöst.
    Zu unserer bescheidenen Tafelrunde gesellte sich ein älterer Volksdeutscher, der den anwesenden Beamten der deutschen Botschaft wohlbekannt war. Im Gegensatz zu seinem Sohn und seiner Nichte, die ihn begleiteten, sprach er noch leidlich die angestammte Muttersprache. Seine ganze Sippe war von Stalin ins abgelegene Tadschikistan verschleppt worden; aber vor zwei Monaten hatte er diese von Bürgerkriegswirren heimgesuchte Republik, die an Afghanistan und China grenzt, fluchtartig verlassen. Gräßliche Dinge spielten sich in Duschanbe, der tadschikischen Hauptstadt, ab, ganz zu schweigen von den Massakern, die in den entlegenen Provinzen unter Ausschluß

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