Die Angst des wei�en Mannes
sich austobten.
Ein stark angetrunkener Mann hatte sich zu mir an den Tisch ge setzt. Er gab sich als Wolgadeutscher zu erkennen. Das Schicksal hatte ihm übel mitgespielt, und sein Unglück war ihm ins kantige Gesicht geschrieben. Sein Deutsch war anfangs holprig, wurde aber im Verlauf der Unterhaltung flüssiger und prägnant. Ohne Alkohol hätte er wohl schweigend und tiefsinnig verharrt. Aber jetzt spru delte es aus ihm heraus.
Seine Eltern hatten in Saratow gelebt, und er war Kind gewesen, als sie nach Zentralasien ausgesiedelt wurden. Sein Vater war in einem Bleibergwerk zu Tode geschunden worden. Er selbst kam mit dem Leben nicht mehr zurecht. »Die Kasachen, die sich hier ent fesseln und vollsaufen«, sagte er, »sind Natschalniks aus der Pro vinz, Kolchosen- oder Sowchosen-Vorsitzende, Parteifunktionäre. Immer häufiger findet man diese Asiaten auch in den Ministerien der Sowjetrepublik Kasachstan, obwohl sie nur rund ein Drittel der Bevölkerung ausmachen. Viel taugen sie nicht. Die wirkliche Arbeit wird von Ratgebern ausgeführt, meist Juden, die sich im Hinter grund halten. Aber die Russen werden sich noch umsehen, wenn sie ihre muslimischen Fremdvölker an die Freuden der Machtaus übung gewöhnen.«
Wie stark der Islam noch bei der Urbevölkerung verwurzelt sei, fragte ich. Der Wolgadeutsche zuckte die Achseln, trank einen langen Schluck Wodka und rülpste. »Wer weiß das schon? Beschnitten werden sie alle als Knaben. Fromm werden sie erst, wenn sie altern. Dann hören sie auch auf, Wodka zu trinken, und gehen wieder in die Moscheen. Die Greise, die ›weißen Bärte‹ oder ›Aksakal‹, wieman sie nennt, stehen übrigens bei den Jungen noch in hoher Achtung. Selbst der ältere Bruder ist unumstrittene Respektsperson.«
Drei athletische Georgier hatten dem Orchester-Chef einen Zehnrubelschein zugeworfen, und es ertönte eine urwüchsige kau kasische Weise. Die Georgier strotzten vor Kraft. Die dichten Sta lin-Schnurrbärte unterstrichen ihr Machogehabe. Sie hakten sich ein und führten einen grusinischen Tanz auf, wild, selbstbewußt, herausfordernd. »Diese Kaukasier haben es besser getroffen als wir Wolgadeutschen«, klagte der Mann aus Saratow. »Uns haben sie zersplittert und zerbrochen. Die Kaukasier haben ihre Identität be wahrt. Die wendigen Georgier verachten die schwerfälligen russi schen Bürokraten. Sogar die Muslime aus dem Kaukasus haben sich behauptet.«
Viele dieser Gebirgsstämme hatten die deutsche Wehrmacht im Sommer 1942 als Befreier begrüßt und mit ihr zusammengearbei tet. Die Tschetschenen und Inguschen seien daraufhin 1944 von Stalin ebenso ausgesiedelt und zwangsverschickt worden wie die Volksdeutschen drei Jahre zuvor. Aber die Muselmanen des Kauka sus hätten sich nicht gefügt. Sie hätten sich fanatisch an ihren kora nischen Glauben geklammert und das Unglaubliche fertiggebracht. Sie seien in ihrer hoffnungslosen Verbannung in Kasachstan zu ak tiven Missionaren des Islam geworden, hätten bei den Kasachen den bereits verschütteten religiösen Eifer neu geweckt.
»Heute leben die Tschetschenen und Inguschen wieder in ihren eigenen autonomen Republiken im Nordkaukasus«, seufzte er bit ter. »Aber wir Wolgadeutsche bleiben Strandgut.« Seine Worte gingen in einem neuen Ausbruch der Band und dem Jubel der Gäste unter: »Dsching Dsching Dschingis Khan … und man hört ihn lachen, immer lauter lachen … Sie ritten um die Wette mit dem Steppenwind … Auf Brüder, rauft Brüder, sauft Brüder … Dsching Dsching Dschingis Khan …«
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Dieseturbulente Szene spielte sich, wie gesagt, im Sommer 1980 in Alma Ata ab. Das Rad der Geschichte hat sich rasend schnell ge dreht. Im Juli 2009 werde ich in der zur Metropole Astana ausge bauten Steppenfestung Akmola Zeuge einer pathetischen kulturel len Wiedergeburt eines islamischen Turkvolkes, des Entstehens einer asiatischen Nation. Der ehemalige kommunistische Partei funktionär Nursultan Nasarbajew hat mühelos die Herrschaftsal lüren eines orientalischen Despoten, eines Groß-Khans übernom men, und hoch über mir entfaltet sich die Flagge eines souveränen, selbstbewußten Staates. Im Intourist-Hotel von Alma Ata hatte einst der dröhnende Chor zu Ehren des Gewaltmenschen Dschin gis Khan noch wie ein Scherz, wie ein munterer historischer Gag geklungen. Aber jetzt weht das Panier dieses unermüdlich galop pierenden Eroberers als Signal asiatischen Triumphes über der endlosen Steppe, die sein Revier war. Das Blau des
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