Die Angst des wei�en Mannes
wundere sie sich darüber, wie schnell und gefügig die einst präpotenten Slawen das Feld räumen würden.
Vereinzelte Versuche, wehrhafte Kosakenverbände aufzustellen, um dem asiatischen Vordringen entgegenzuwirken, seien an der mangelnden Unterstützung Moskaus gescheitert. Bis auf weiteres herrsche Eintracht zwischen Russen und Kasachen, die sich im Laufe der Jahrzehnte aneinander gewöhnt hätten. Schwierigkeiten gebe es hingegen mit jenen kasachischen Neuankömmlingen, den sogenannten »Oraimanen«, die in fremde Staaten ausgewandert waren, zumal nach China, in die Mongolei, sogar die Türkei, und in ihrer eigenen, neugegründeten Republik den anwesenden Euro päern ablehnend oder feindselig gegenüberständen.
Wie gründlich sich im weiteren Umkreis von Astana die ethnische Zusammensetzung bereits verändert hat, kann ich bei einer Autofahrt in die nördliche Steppe wahrnehmen, auf jener endlosen Trasse, die jenseits der Grenze in die sibirische Stadt Omsk mün det.In diese triste Region war einst Dostojewski verbannt worden. Hier haben die sowjetischen Atomexplosionen verseuchtes Terrain hinterlassen. Im abseits gelegenen Baikonur befindet sich auch jene Raumstation, von der in regelmäßigen Abständen gewaltige Raketen der russischen Astronautik ins Weltall geschossen werden.
Die meisten Steppendörfer sind von der einst überwiegend rus sischen Bevölkerung bereits verlassen worden. Lediglich die hüb schen Holzhäuser mit den bunt bemalten Fensterrahmen sind üb riggeblieben und eine Anzahl von Kasachen, die jetzt dort leben. Die Friedhöfe der Muslime sind kunstvoll mit Ziegeln ausgelegt und mit Blumen geschmückt, während die orthodoxen Kreuze mit dem Querbalken über den verwahrlosten Gräbern der Christen Rost ansetzen und im Sand versacken.
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Der Tag, der so fromm begonnen hatte, endet in einem Sünden pfuhl. Unser Fahrer schlägt vor, das Nachtlokal »Lido« aufzu suchen, damit wir nicht auf die Idee kämen, Astana würde in Lan geweile und Feierlichkeit verdorren. Es beginnt ganz harmlos in einem großen, phantasielos dekorierten Raum, wo diverse Gäste sich in Karaoke üben und dabei mit erstaunlich geschulten Stim men ihre melancholischen Lieder vortragen.
Die muskulösen, freundlichen Saalschützer führen uns dann ins Zentrum des Vergnügens. Ich stelle fest, daß jeder von ihnen mit einer Makarow-Pistole ausgerüstet ist. Das Publikum an den Ti schen rings um die Tanzfläche wirkt eher bürgerlich, beinahe spie ßig, aber diese Zurückhaltung würde sich wohl mit zunehmendem Wodka-Genuß in grobe Ausgelassenheit verwandeln. Beeindruckt sind wir von einer gewaltigen Batterie von Flaschen, die alle nur er denklichen Alkoholika der Welt – teilweise zu astronomischen Prei sen – in Hülle und Fülle aneinanderreiht.
Die eigentliche Attraktion bildet ein Dutzend junger Mädchen, die abwechselnd ihre tänzerischen Darbietungen vorführen und nach bewährter Gogo-Praxis sich lasziv um ein paar silberne Metall stäberäkeln. Es sind ausgewählt schöne Kreaturen, die dort ihre Reize vorführen. Zum Erstaunen der Tatarin Gulmira sind neben zwei blonden Russinnen vor allem attraktive junge Kasachinnen vertreten mit langer, schwarzer Mähne und hochstehenden Backenknochen. Der erotische Reigen hat mit einem halbwegs verhüllten Schleiertanz begonnen, aber am Ende rücken die Traumwesen fast nackt und völlig ungeniert immer näher an die Tische der Konsumenten heran. Unser Fahrer erklärt mir, daß bei vorgerückter Stunde der kommerzielle Teil der Vorstellung eindeutig überhandnehme. Für den Kuß einer dieser Damen seien zehn Dollar zu entrichten. Bei intimeren Beziehungen, die sich in der oberen Etage des Lido abspielen würden, seien natürlich weit höhere Preise angesetzt.
Ich spüre, daß Gulmira sich nicht wohl fühlt in dieser Umgebung. Sie fühlt sich in der früheren Hauptstadt Almaty zu Hause und be sucht dort, so oft sie kann, ihre Familie. Das Steppen-Exil von As tana und dessen protzige Begleiterscheinungen stimmen sie melan cholisch. Sie unterbricht ihre Betrachtungen, als der Administrator des Lido auf das Podium tritt, um die Gäste sehr höflich zu begrü ßen. Nach ein paar Sätzen auf Kasachisch bricht Gulmira völlig un erwartet in schallendes Gelächter aus. Die Ansprache des gehobe nen Zuhälters gipfelt nämlich in einer Ergebenheitsadresse an den genialen Staatsmann Nursultan Nasarbajew und an dessen titanische Leistung beim Aufbau der Hauptstadt Astana. Auch der
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