Die Angst des wei�en Mannes
Zeremonie. Anschließend trafen sich die Paare und ihr Anhang zum Glas Krimsekt und einem kurzen Schwatz in einem der Nebenräume, während die nächsten Ehekandidaten auf gerufen wurden.
ImBrautgefolge waren Russen und Kasachen bunt vereint, was darauf schließen ließ, daß neben den Angehörigen auch Berufskol legen zu dieser Feier eingeladen wurden. Rassisch gemischte Braut paare entdeckte ich hingegen nicht. Hier blieben die Völkerschaf ten – oder die Religionen? – säuberlich getrennt. Die schlanken Asiatinnen mit den mongolischen oder iranischen Gesichtszügen wirkten oft graziöser als die russischen Frauen. Vor dem Hochzeits palast, der auf der anderen Straßenseite durch einen fast gleichför migen Zirkusbau symmetrisch ergänzt wurde, warteten bunt deko rierte Taxis. Sie trugen – als Verheißung künftigen Nachwuchses – strohblonde Puppen mit blauen Augen auf dem Kühler.
Natürlich begleitete mich Igor auch zur meistgerühmten Sehens würdigkeit in der Umgebung Alma Atas, zum größten Eislaufsta dion der Welt an den Ausläufern des Alatau-Gebirges. Dort wurde Stutenmilch oder »Kumis« für privilegierte Ausflügler in einer lieb los hergerichteten Jurte ausgeschenkt. »Auf jenem grünen Hügel, ›Koktiube‹ genannt, trafen sich früher die Häuptlinge der Kasa chenstämme«, erklärte Igor.
»Gläubige Muslime gibt es hier nicht mehr«, hatte Igor katego risch behauptet, als ich den Wunsch äußerte, eine Moschee zu be suchen. Schließlich gab er nach, und der Intourist-Wagen fuhr mich in das schäbigste Viertel von Alma Ata in der Nähe des Bahnhofs. Die Holzhäuser waren dem Verfall ausgeliefert, die Seitenstraßen – im Gegensatz zum geometrisch geordneten Schachbrett des Zen trums – durch tiefe Schlaglöcher ausgehöhlt. Ich entdeckte nach längerem Suchen ein bescheidenes Portal mit dem arabischen Hin weis »Musjid Alma Ata«.
Die Moschee war aus Holz gebaut. Das Minarett trug eine Blech krone und wurde gerade ausgebessert. Im Gebetsraum überraschten farbenprächtige Teppiche. Über der Gebetsnische war die Schahada zu lesen, das Bekenntnis, daß es keinen Gott außer Allah gebe und daß Mohammed sein Prophet sei. Drei alte Kasachen mit Tupeteika und weichen Schaftstiefeln hockten im Garten und tranken Tee.
Ich war ins Innere gegangen, nachdem ich die Schuhe abgestreift hatte. Plötzlich fand ich mich einem jungen Imam mit Turban ge genüber,der sich in korrektem Hocharabisch ausdrückte. Er hatte in Damaskus islamische Studien betrieben, mußte also ein Vertrauensmann des Regimes sein. War er von der Sowjetbehörde als Vorsteher dieses kümmerlichen Außensprengels der großen islamischen Umma bestallt worden, um eventuelle Besucher aus dem Ausland irrezuführen? Oder blieb er insgeheim der koranischen Offenbarung treu? Ich verließ ihn mit dem Gefühl, daß in Kasachstan der Zerfall des Glaubens besonders weit vorangeschritten war.
Anschließend ließ ich mich zum Kolchos-Markt fahren. Das An gebot an Früchten und Gemüse war für Moskauer Begriffe unvor stellbar reichhaltig. Die moderne Verkaufshalle war mustergültig und hygienisch angelegt. Die Händler hingegen, die vom Land ka men und zum Teil große Entfernungen zurückgelegt hatten, blie ben irgendwie der asiatischen Weite verhaftet. Wenn der auslän dische Besucher daran gehindert wurde, den Umkreis der Stadt Alma Ata, diesen Schmelztiegel russischer Assimilation, zu verlas sen, so gab es vielleicht gute Gründe dafür und nicht nur den Vor wand des Militärgeheimnisses im chinesischen Grenzgebiet. Eine Vielzahl asiatischer Rassen und Völkerschaften gab sich auf dem Kolchos-Markt ein Stelldichein, von den Kaukasiern bis zu den Ko reanern. Hundert Nationalitäten seien in Kasachstan vertreten, be richtete Igor. Die ethnische Vielfalt dieses Marktes spiegelte die Hintergründigkeit eines Landes, dessen Zugang man mir wohl weislich versperrte. Die Gesichter vieler Kolchosbauern waren von den unauslöschlichen Spuren der Steppe und des Islam gezeichnet.
Laboratorium der Völkerfreundschaf t
Von allen Fremdvölkern, die der maßlose Ausdehnungsdrang dem Petersburger Imperium einverleibt hatte, waren die Kasachen am grausamsten behandelt worden. Ich hatte mich vor meiner Abreise über diese tragische Entwicklung kundig gemacht. Igor hätte mir allenfallsmit Ausflüchten geantwortet. Schon früh hatte das Zarenreich diesen asiatischen Nomaden jede Form von Selbstverwaltung geraubt, den Ältestenrat, den »Kurultai«,
Weitere Kostenlose Bücher