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Die Angst des wei�en Mannes

Titel: Die Angst des wei�en Mannes Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Peter Scholl-Latour
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irgendeine Form von Bedauern auszudrücken über das Schicksal und die er bärmlichen Lebensbedingungen, in die sie als Folge der weißen Ko lonisation gedrängt wurden. Erst der neue Regierungschef Kevin Rudd hat es über sich gebracht, das Wort »Sorry« auszusprechen, eine regierungsamtliche Entschuldigung zu formulieren, auf die liberale Parlamentarier seit langem gewartet hatten.
    An den traurigen Lebensbedingungen der Betroffenen habe sich dadurch wenig geändert, erzählt Flaherty, auch wenn die Regierung von nun an darauf verzichte, farbige Kinder systematisch ihren Familien zu entreißen, um sie in staatlichen oder kirchlichen Erziehungsstätten den Bräuchen ihrer Sippe zu entfremden und sie andie vorherrschende weiße Gesellschaft anzupassen. Die Bürgerrechte wurden den Aborigines – theoretisch zumindest – schon vor vier Jahrzehnten gewährt, und die zuständigen Behörden versuchten diese Urkultur zumindest als Folklore wieder aufleben zu lassen. Der Major äußert sich extrem zurückhaltend zu der Problematik. »Es ist einfach nicht möglich, diese Mitbürger mit unserer Zivilisationsform in Einklang zu bringen«, sagt er resigniert und verfällt in Schweigen.
    Er verabschiedet sich, denn seine Maschine wird schon bei Mor gengrauen in Richtung Aceh starten. Ich bleibe alleine auf der Ter rasse meines Hotels zurück. Dieses Mal ist es kein Tropenfieber, das mir düstere Visionen vorgaukelt. Vielleicht ist es die Wirkung des Alkohols, die mich besinnlich stimmt und mit erstaunlicher Präzi sion in die Vergangenheit versetzt. Ich gestehe, daß es für den Le ser nicht einfach sein wird, diese ständigen Wechsel von Zeit und Ort, der meine Rückbesinnung begleitet, nachzuvollziehen. Mein Blick verliert sich in den schwefelgelben Nebeln der Lombo-Selat, und vergeblich suche ich am verdüsterten Firmament nach dem Kreuz des Südens, das die Flagge Australiens schmückt.
    Die verlorene Traumwelt
    Broome (Australien), im Herbst 1974
    Etwa 1000 Kilometer Wasserfläche trennen Bali von der nordwest lichen Küste des Fünften Kontinents, von jener trostlosen Kimber ley-Region, wo das Leben der Eingeborenen zur Zeit meines Be su ches noch Spuren von Ursprünglichkeit bewahrte. Nach einigem Suchen hatte ich unweit des Fleckens Derby einen Schamanen namens Baronga aufgespürt, der vorgab, die Mythen der Vorfah ren, das überlieferte Wissen aus einer Nacht von 50 000 Jahren zu deuten.
    Da saß ich nun am Rand der graubraunen Steppe dem alten Scha manen gegenüber,der nur mit einem Lendentuch bekleidet war. Seine Haut war gräulich-schwarz. Die Haare waren zottig und verfilzt. Die breite Nase, das mächtige Gebiß, die Augenwülste und die fliehende Stirn verwiesen auf die Neandertaler. Mit einem Zweig zeichnete Baronga eine Spirale in den Sand, das Sakralmotiv der »Traumwelt«, das Zeichen der ewigen Wiederkehr, des stets erneuerten Lebens.
    In erstaunlich präzisem Englisch erklärte er den zyklischen Pan theismus der australischen Aborigines: »Das Leben sehen wir wie die Wellen des Meeres. Aber solange man einen Anker hat – Sie wis sen, was ich mit Anker meine? –, so lange ist man in Sicherheit; dann kehren wir immer zum gleichen Punkt zurück. Die Menschen leb ten schon vor der großen Flut; dann kam das große Wasser, und die Menschen wurden von der Erde ausgelöscht. Das glauben wir. Sie ertranken, aber sie wurden gleichzeitig in Felsen verwandelt, in Le bewesen, die sich bewegen. Was wir ›Wungur‹ nennen, das sind unsere Verwandten, das sind Felsen, Bäume und Tiere.«
    In respektvollem Abstand saßen die Frauen. Sie waren in schäbi gen Kattun gekleidet. Ihre Häßlichkeit war pathetisch. Sie blickten stumm vor sich hin, trauriger als Tiere. Sie wirkten wie Figuren aus einem absurden Science-Fiction-Film. Unser Toningenieur Steve sprach aus, was keiner von uns zu formulieren wagte: »Wenn Sie das ›missing link‹ der Menschheitsentstehung suchen, hier haben Sie es vor Augen.«
    Es war eine seltsame Fügung, daß diese äußerste Nordwestregion Australiens auf den Landkarten als Beagle Bay eingetragen ist. Die »Beagle« war das Vermessungsschiff, auf dem Charles Darwin 1831 zu seiner fünfjährigen Weltumseglung aufbrach und dabei die Kenntnisse sammelte für die Niederschrift seines Werkes über Die Entstehung der Arten . Auf Weisung Barongas hatten die Männer des Degina-Stammes sich für unsere Filmaufnahmen mit weißer Farbe bepinselt und ließen ihren überlieferten Tanz, den »Corroboree«

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