Die Angst des wei�en Mannes
daß der Freizeitkult so entwickelt sei, daß das Wort »Arbeit« zu einem obszönen Begriff würde.
Hier ist gründlicher Wandel eingetreten. Zumindest in den Me tropolen wie Sydney und Melbourne herrscht kosmopolitische Of fenheit vor. Die prüde Tugendhaftigkeit und Trägheit von einst ist wirtschaftlicher Dynamik und Tüchtigkeit, aber auch einer Genuß freude gewichen, die an Hedonismus und Libertinage grenzt. Eine »Love Parade« ließe sich heute in Sydney ebenso problemlos orga nisieren wie der Exhibitionismus vom »Christopher Street Day«. Sogar die Farbschranken lösen sich auf, zumindest was die asiati schen Neubürger betrifft. Sie stammen mehrheitlich aus Vietnam und China und machen bereits sieben Prozent der Bevölkerung aus. Der mächtigste Presse- und Medienmogul der Welt, der Australier Rupert Murdoch, hat seine attraktive chinesische Sekretärin gehei ratet, und niemand nimmt Anstoß daran.
Weiterhin traurig und hoffnungslos ist es um die Aborigines be stellt, denen die »Sorry«-Erklärung von Prime Minister Kevin Rudd und eine ganze Serie sozialer Fürsorgeversprechen wenig geholfen haben. Vor der Ankunft der Weißen mochten diese im Paläolithikum lebenden Urmenschen, die in einer Vielzahl eth nisch differenzierter Stämme zweihundert unterschiedliche Idiome sprechen, schätzungsweise eine halbe Million gezählt haben. Heute werden sie weiterhin auf knapp 500 000 veranschlagt – das sind vier Prozent der Gesamtbevölkerung –, aber sie können sich nicht ein mal, wie die Indianer Nordamerikas, die von den Weißen systema tisch verdrängt und ausgerottet wurden, auf die Legende eines ro mantischen, heldenhaften Widerstandes gegen die fremden Eindringlinge berufen, der in der Nachwelt weiterlebt.
Aufden Ur-Australiern scheint ein schrecklicher Fluch zu lasten. Vor Ankunft der ersten Europäer lebten sie in Horden als Sammler und Jäger, kannten weder Ackerbau noch Viehzucht. Sie besaßen keine Eigentumsbegriffe. Unter Windschilden aus Laub suchten sie Schutz vor der brennenden Sonne und der empfindlichen Kälte des Winters. Ihr Leben verlief ebenso zyklisch wie die in sich geschlos senen Kreise ihrer mythischen Traumwelt.
Im Jahr 2008, zu einem Zeitpunkt, da ein afroamerikanischer Em porkömmling die Präsidentschaft der Vereinigten Staaten von Ame rika übernimmt und somit zum mächtigsten Mann der Welt wird, lohnt es sich, an den Antipoden Europas – in Australien und Neu seeland – Betrachtungen anzustellen über die ungeheuerliche expan sive Kraft, die die weiße Menschheit im verflossenen halben Jahrtau send entfaltet hat. In dieser Epoche wurde der nordamerikanische Kontinent zu einem riesigen europäischen Siedlungsgebiet. Die Ko saken des russischen Zaren nahmen die unendliche Nordhälfte Asiens, ganz Sibirien bis zur Küste des Pazifischen Ozeans in Besitz.
Die Eroberung und Besiedlung dieser immensen Territorien hat sich unter sehr unterschiedlichen Umständen vollzogen. Die USA berufen sich immer noch in historischer Verklärung auf den calvi nistischen Puritanismus und die Sittenstrenge, die Tugenden der Pilgerväter. Bei der Gründung ihrer ersten befestigten Dörfer in Neu-England schwärmten sie von einem neuen Jerusalem, »The City of the Hill«. Die Ankunft der Weißen in Australien stand un ter ganz anderen, geradezu konträren Auspizien.
»Australia Day« heißt der australische Nationalfeiertag. Ich weiß nicht, wie er heute begangen wird, aber am 28. Januar 1974 enthüllte diese Festivität ohne jeden Komplex ein brutales, grausames Historienbild. Die Kolonisation des Fünften Kontinents, der im siebzehnten Jahrhundert von holländischen Seefahrern sporadisch entdeckt wurde und im Jahr 1770 durch James Cook bei seiner Landung in Botany Bay »for King and Country« zum Besitz der britischen Krone erklärt wurde, begann erst im Januar 1788, als die »First Fleet« in der Nähe des heutigen Sydney 756 europäische Siedler ausschiffte. Hier handelte es sich jedoch um Pilgerväter be sondererArt. Es waren Sträflinge aus dem britischen Mutterland, der kriminelle Ausschuß der frühindustriellen Gesellschaft.
In jener erbarmungslosen Zeit des von Dickens beschriebenen Frühkapitalismus genügte es allerdings, daß ein Hungerleider einen Laib Brot stahl, um ihn hinter Gitter zu bringen, ganz zu schweigen von den katholischen Iren, die sich gegen die willkürliche Un ter drückung durch ihre englischen Fronherren zur Wehr setzten. Der erste Gouverneur und Kerkermeister
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