Die Angst des wei�en Mannes
wollten oder was sie mir zu erklären versuchten, mischten sich zwei dunkelblau uniformierte Polizisten ein und gaben mir den dringenden Rat, nicht länger in dieser zweifelhaften Umgebung zu verweilen. Die Ordnungshüter waren betont angelsächsisch aufge treten. Die Weißen Neuseelands bezeichnen sich selbst als »Kiwis« und beziehen sich damit auf einen nur auf Neuseeland anzutreffen den, seltsamen Vogel, der erst nach Einbruch der Dunkelheit seine Nahrungssuche aufnimmt.
Von Nachtleben konnte in jener Zeit schottischer und presbyte rianisch geprägter Prüderie selbst in den wenigen großen Städten nicht die Rede sein. Die weiße Bevölkerung war ganz und gar auf den viktorianischen Lebensstil des Mutterlandes ausgerichtet, un terschied sich jedoch von dieser imperialen Epoche Großbritan niens durch einen ausgeprägten Hang zur gesellschaftlichen Nivel lierung, durch ihre »Leidenschaft für soziale Gerechtigkeit«, wie konservative Politiker zu spotten pflegten. Das soziale Fürsorge programm Neuseelands galt weltweit als vorbildlich, aber wirkliche Lebensfreude schien – abgesehen von der Begeisterung für alles Sportliche – nirgendwo aufzukommen.
So stellte ich zu meiner Verwunderung fest, daß nur vereinzelte Restaurants eine Lizenz zum Alkoholausschank besaßen und daß die Pubs ab achtzehn Uhr einer unerbittlichen Sperrstunde unter lagen. Arbeit am Sonntag war strikt verboten. Bis zum Jahr 1950 galt eine absurde Vorschrift, die aus Rücksicht auf die öffentliche Moral das Kopulieren von Rindvieh in der Öffentlichkeit unter sagte. Zusätzlich erwiesen sich die weißen Neuseeländer als die »besseren Briten des Südens«, indem sie die üppigen und schmack haften Naturprodukte ihrer Insel zu einem ungenießbaren Brei ver kochten, der selbst an der Themse Anstoß erregt hätte.
Ineinigen Sportgattungen, vor allem aber bei den rauhen Rugby-Schlachten, feierten die Kiwis den Höhepunkt ihrer jungen natio nalen Identität. Mit der legendären Rugby-Mannschaft »All Blacks«, in der die robusten Maori sich durch ihren Ungestüm hervortaten, brachten es die Neuseeländer mehrfach zur Weltmeisterschaft.
Ihre Treue zum Commonwealth bewiesen sie in den beiden Welt kriegen. Ähnlich wie ihre australischen Nachbarn haben die Kiwis an der Seite ihrer britischen Brüder gekämpft und einen hohen Blutzoll entrichtet. Das Land, das 1914 nur eine Million Einwoh ner zählte, entsandte im Ersten Weltkrieg 100 000 Soldaten auf die Schlachtfelder Europas, von denen 60 000 den Tod fanden. Auch im Zweiten Weltkrieg waren die Neuseeländer mit starken Kontingen ten auf den Kriegsschauplätzen Europas und Nordafrikas präsent, während sie die Verteidigung ihrer eigenen Heimat gegen die japa nische Bedrohung aus Norden der massiven Stationierung ameri kanischer GIs überließen.
Meine erste Reise endete damals in Wellington, dem Regie rungssitz Neuseelands, der sich durch stattliche Gebäude und er drückende Langeweile auszeichnete. An einem grauen, nebligen Sonntag dämmerte die Hauptstadt wie ausgestorben dahin. Das Stadtzentrum wurde durch ein massives, eindrucksvolles Denkmal gekrönt, das den vielen Gefallenen gewidmet war, die in ihrer Ju gend dahingerafft worden waren. Die elegischen Trauerverse eines englischen Dichters, in Granit gemeißelt, gaben Kunde davon, daß sich hier – an den Antipoden Europas – eine starke weiße Nation formiert hatte.
Ich habe in jener fernen Stunde darüber gegrübelt, welch unge heuerliches demographisches Phänomen dazu geführt hatte, daß im Verlauf des neunzehnten Jahrhunderts die weiße Menschheit sich mit der Wucht eines Vulkanausbruchs über sämtliche Konti nente verteilte und riesige Territorien – sei es in Nordamerika oder in Sibirien, in Australien oder in Neuseeland – nach Abdrängen der farbigen Ureinwohner in kümmerliche Randregionen in exklusive eigene Siedlungsgebiete verwandelte. Eine solche globale und rasante Völkerwanderung hatte niemals zuvor stattgefunden.
Totempfähleund Musketen
Bay of Islands (Neuseeland), im Februar 2008
Mein zweiter Besuch jener fernen Inselwelt, die von den Maori »Taoterua« oder »Land der langen, weißen Wolken« genannt wird, findet unter ganz anderen Vorzeichen statt. Mein Sohn Ro man hat sich mit seiner Schweizer Frau Seida an der äußersten Nordspitze jenseits der Bay of Islands und des bescheidenen Ver waltungszentrums Keri-Keri als Farmer niedergelassen und seiner abgeschlossenen medizinischen Ausbildung den
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