Die Angst im Nacken - Spindler, E: Angst im Nacken
bedauerte die Kleine und sich selbst. Die Handflächen gegen das harte Türblatt gepresst, rief sie leise: „Hallo!“ Dann lauter: „Ich bin es. Hier oben. Hör auf zu weinen. Komm herauf, und rede mit mir.“
Das Weinen hörte auf. Stille ringsum. Die Sekunden verstrichen. Jaye rief wieder: „Komm herauf, ich werde mit dir reden! Wir haben uns, wir können Freundinnen sein!“
Jaye wartete – wie ihr schien, ewig – und betete mit Herzklopfen, jemand möge antworten. Schließlich versuchte sie es wieder. „Bitte!“ rief sie. „Bitte, komm und rede mit mir.“
Irgendwo im Haus schlug eine Tür zu, endgültig und ohrenbetäubend. Die Augen geschlossen, ließ Jaye sich gegen die Tür sinken. Die andere würde nicht kommen. Sie wimmerte leise, als Hoffnungslosigkeit sie zu übermannen drohte.
Sie war allein, immer noch allein.
Plötzliches Gelächter durchdrang die Stille, brach in ihre Gedanken ein und löste die ängstliche Anspannung. Nein, sie würde nicht aufgeben wie dieses andere Mädchen. Sie würde immer wieder versuchen zu fliehen und ihn zu überlisten.
Das Gelächter einer Gruppe Menschen auf dem Gehweg wehte zu ihr hinauf.
Sie sind unter meinem Fenster! Menschen, die mir helfen können. Ich muss sie auf mich aufmerksam machen.
Jaye eilte zum Fenster und warf sich gegen die Bretter. Wie eine Verrückte schlug sie schreiend dagegen. Ihre geschundenen Finger platzten wieder auf und begannen zu bluten.
Blut rann klebrig an ihnen hinab. Schluchzend riss sie ein Stück der blätternden Tapete herunter und wischte es damit ab. Verdünnt durch ihre Tränen, bildete das Blut auf dem Blumendessin ein Muster wie Spinnengewebe. Fast sah es aus wie die krakelige Schrift einer sehr alten Frau.
Schrift? Natürlich!
Sie starrte auf die Linien, und ihre Tränen begannen zu trocknen. Auf der Suche nach einem weiteren Stück lockerer Tapete ließ sie den Blick über die Wand schweifen.
Sie fand eines und löste es sorgfältig ab. Das Papier, brüchig vom Alter, zerbröselte. Unverdrossen versuchte sie es erneut und dann noch einmal. Sie löste das Papier an den Ecken und zog es vorsichtig von der Wand.
Schließlich hatte sie ein festes Stück mit unregelmäßigem Rand, etwas größer als ein Notizzettel. Ihre Wunden hatten bereits aufgehört zu bluten. Sie drückte auf die Spitze des rechten Zeigefingers, um einen Schnitt wieder zu öffnen. Sobald sich ein Blutstropfen bildete, begann sie damit eine Nachricht zu schreiben. Die Minuten vergingen. Als der erste Finger schmerzhaft zu klopfen begann, nahm sie den nächsten. Sie wiederholte die Prozedur, bis sie Hilfe! Ich bin gefangen! J. Arcenaux geschrieben hatte.
Das Gebäude war alt. Die Fenster saßen schlecht im Rahmen. Vielleicht konnte sie das Papier durch den kleinen Schlitz zwischen Fenster und Rahmen schieben. Dazu musste sie aber zunächst eine Hand durch einen Spalt zwischen zwei Brettern quetschen. Es gelang, obwohl es qualvoll war und langsam ging. Hand und Finger waren verkrampft, und Schweiß rann ihr über Oberlippe und Rücken. Sie schob das Papier weiter, bis es ihr aus der Hand fiel und aus dem Fenster.
Erst da merkte sie, dass sie weinte. Stumme Tränen der Hoffnung – und der Hoffnungslosigkeit.
Sie zog die Hand zurück und sank zu Boden. Die Beine angezogen, legte sie die Stirn auf die Knie. Sie betete, dass jemand die Nachricht fand und zur Polizei brachte. Und dass die Polizei nach ihr suchte und sie fand.
Es musste so kommen. Es musste einfach!
26. KAPITEL
Sonntag, 21. Januar,
French Quarter.
Anna erwachte mit einem Kater. Nicht vom Alkohol, obwohl sie mehr getrunken hatte als gewöhnlich. Ihr Kater war psychisch. Sie mochte sich nicht bewegen und hatte keine Lust, aufzustehen und den Tag anzugehen. Kopf und Fuß pochten, ihre Augen brannten, und ihre Stimmung war mies.
Die Augen geschlossen, ließ sie den gestrigen Abend noch einmal Revue passieren. Ihre Ausgelassenheit in der Bar, Quentin Malones Warnung wegen der getöteten Frauen und wie die Panik auf dem Heimweg mit jedem Schritt größer geworden war.
Was war gestern Nacht passiert? War ihr wirklich jemand von der Bar aus gefolgt? Oder hatte ihre Fantasie ihre Wahrnehmung getrübt und ihr einen Streich gespielt?
Die Schritte hinter mir bewegten sich in meinem Tempo. Hörten aber auf, wenn ich stehen blieb. Wenn Malone hinter mir gewesen wäre – dann wäre er weitergegangen!
Sie verzog skeptisch das Gesicht. Es sei denn, sie hatte sich das Ganze eingebildet. In
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