Die Angstmacher
unheimliche Präsenz ist das Ungewöhnliche der Werbeoffensive. Die Botschaften sind erstaunlich, sie erregen Aufmerksamkeit. In Büros, Fitnessstudios und Straßenbahnen sind sie Gesprächsthema. Die Aussagen sind eine Anklage, sie wirken wie Selbstkritik einer bislang ausschließlich auf sich selbst fixierten, fast autistischen Branche, deren Verkäufer und Sachbearbeiter sich nicht im Geringsten für die Menschen interessieren, mit denen sie zu tun haben. »KönntIhr nicht einfach mal aufhören, mich zu verunsichern, und anfangen, mich zu versichern?«, will der ERGO-Boy wissen und spricht vielen aus dem Herzen. Das ist so geschickt wie infam.
Bei ERGO versteht man den Kunden und der Kunde den Versicherer genauso wenig wie bei jedem anderen Anbieter. Das ist nach Beginn der Kampagne nicht anders als vorher. Das vollmundige Versprechen, das in der scheinbaren Selbstkritik mitschwingt, kann das Unternehmen nicht einlösen. Es ist reine PR und keine Praxis. Aber bei Verbrauchern kommt es gut an, es trifft einen wunden Punkt. Dass Versicherungsbedingungen nicht zu verstehen sind und Vertreter Kunden mit Angst und Verunsicherung unter Druck setzen, statt sie sachlich zu informieren, ist ja keine böswillige Verleumdung von Verbraucherschützern – auch wenn das Repräsentanten der Zunft gerne glauben machen. Es ist tagtäglich gelebte Erfahrung von Millionen von Menschen. Entsprechend gut kommt der ERGO-Boy mit seinem Spruch an: »Hab ich irgendwas getan, dass ihr so komisch seid, so fremd? Ich weiß zum Beispiel, was ich nicht getan habe: Ich habe nicht Jura studiert, und ihr schickt mir Briefe, die höchstens mein Anwalt versteht.« Um die Welt der Assekuranz wirklich zu verstehen, dürfte ein Jurastudium nicht reichen. Man muss sich auch in Biologie auskennen (»Haarwildklausel« in der Autoversicherung), in Medizin (wann ist die Befindlichkeitsstörung eine Krankheit, von der der Versicherer wissen muss?), in der Meteorologie (wann ist ein Sturm ein Sturm?) und in vielen anderen Fachgebieten.
Einige ERGO-Gesellschaften tragen einen neuen Namen, aber in puncto Kunden(un)freundlichkeit unterscheiden sie sich in nichts von den Konkurrenten. Doch der Versicherer versucht auf eine wirklich neue Art, Kapital aus der Verwirrung zu schlagen, in die die Branche Verbraucher systematisch stürzt. Er greift die Branche an und erscheint dadurch selbst in einem guten Licht – ohne eine Leistung, die den Strahlenkranz rechtfertigen würde. Verschiedene Motive für die Printwerbung sollen die unterschiedlichen Zielgruppen erreichen. Für die Generation Golden Age – dazu gehört man ab Ende vierzig – gedacht ist das Motivmit der älteren Blondine. Sie renoviert und lehnt an einer Leiter. »Ich will Kunde sein und keine Kundennummer«, steht darüber. »Ich will Klartext, keine Klauseln«, fordert der junge Mann, der dank Bobbycar im Hintergrund als junger Familienvater zu identifizieren ist. »Kein Mensch braucht eine Versicherung, die kein Mensch versteht«, sagt ein anderer Mann im Liegestuhl. »Ich möchte von Menschen versichert werden. Nicht von grauen Herren«, verlangt eine junge Frau mit Buch im Korbsessel, die jene anspricht, die mit Michael Endes Momo groß geworden sind. Die Konkurrenten von ERGO erzürnt gerade dieses Motiv. Die grauen Herren sind für jene, die das Buch nicht kennen, einfach eine Metapher für unangenehme Menschen. Wer es gelesen hat, dürfte andere Assoziationen haben. Die grauen Herren in Momo sind keine Menschen, sondern Zeitagenten. Sie nehmen anderen die Zeit weg, die sie sich mit dem falschen Versprechen, sie zu sparen, ergaunern. Wer sich einmal auf sie eingelassen hat, ist ihnen ausgeliefert. Im Grunde schwingt in dieser Werbung eine brillante Zustandsbeschreibung der Assekuranz mit – mit dem kleinen Schönheitsfehler, dass die grauen Herren selbst sie gestaltet haben.
Kritik ohne Konsequenz ist der wahre Kern der Kampagne. Die erste zaghafte Entbürokratisierung im eigenen Haus beginnt ERGO erst lange nach dem Start der Reklameattacke und dann auch nicht da, wo es wirklich drückt. Entrümpelt wird die private Haftpflicht. Eine Sparte, in der die Gewinne nur so sprudeln. Wo es wirklich um etwas geht, zum Beispiel in der Altersvorsorge: Fehlanzeige. Statt sich an die Erfüllung der Wünsche aus der eigenen Kampagne zu machen, setzt der Versicherer auf Gimmicks wie dem ersten »beratenden Plakat«, das er aufstellt. »Interessierte Passanten können per Liveschaltung mit einem
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