Die Angune (German Edition)
aus dem Wurzelstock heraus, und schwang sich wieder in einem nicht geschlossenen Kreis zum Wurzelstock zurück.
Über der kreisrunden Wurzel schwebte das Blatt einer E iche frei im Raum. Gelegentlich strich eine leichte Brise über das Blatt und drehte es hin und her. Aber das Blatt blieb - wie von Geisterhand gehalten - immer an seinem Platz. Denn der greise Waldelf Tisor von der großen Eiche war ein Hexer. Von den anderen wurde er deshalb auch respektvoll der Alte von der großen Eiche genannt.
Für die vegetarisch lebenden Waldelfen bestand der Sinn des Lebens darin, im Einklang mit ihrer Umwelt zu leben. Ihnen war die Jagd genauso fremd wie der Krieg. Demen tsprechend verfügten sie über keine Waffen. Sie benötigten keine Waffen, denn sie hielten sich aus allen weltlichen Belangen heraus - zumindest solange ihr Wald nicht bedroht war. Denn der wurde von ihnen verbissen verteidigt.
Und das war die Aufgabe der Hexer, denn sie allein geno ssen den Schutz der Göttin Etakeh.
In den alten Schriftrollen wurde Etakeh, die Göttin der Wälder und Wiesen, als eine, den Waldelfen sehr hilfreiche Göttin beschrieben. Sie konnte den Waldelfen jeden Wunsch erfüllen. Doch genauso wie Etakeh einen Segen geben konnte, wusste sie ihn auch wieder zu nehmen. Aber selbst die Alten konnten sich nicht an einen solchen Fall erinnern. Er wurde bloß in einigen Legenden der Waldelfen als Warnung weite rgegeben.
Und der greise Waldelf Tisor von der großen Eiche war e iner jener Bevorzugten, die von Etakeh mit der Gabe der Hexerei beschenkt worden war. Er konnte mögliche Angreifer narren und in die Irre führen. Er konnte sie im Notfall aber auch töten. Er konnte schwere Unwetter mit verheerenden Erdrutschen und Schlammlawinen niedergehen lassen. Er konnte sie aber auch bloß mit Luftspiegelungen narren. Wichtig war das Verhältnis zwischen Aufwand und Gefahr, denn der alte Hexer musste jeden Schadenszauber beichten.
Und so stand Tisor von der großen Eiche auf einem Felsen und wartete, denn der Wald war wieder einmal in Gefahr.
In großer Gefahr!
Entlang der Küste hausten die Feinen - die feinen Frauen, wie sie sich selbst nannten. Es war ein Volk von barbarischen Weibern, die einen Wassergeist namens Undina anbeteten.
Die Feinen waren ein Volk von Mischlingen. Im Grenzg ebiet zwischen den Reichen der Weißelfen und der Waldelfen paarten sich gelegentlich Wald- und Weißelfen, und ihre Nachkommen wurden sowohl von den Weißelfen, als auch von den Waldelfen als minderwertige Kreaturen angesehen.
Einerseits entsprachen sie vom Aussehen her nicht den Schönheitsidealen der Weißelfen. Sie waren kleiner und hatten eine braungrüne Hautfarbe.
Andererseits waren viele dieser Mischlingselfen, die im Grenzland hausten, verarmt und lebten vom Diebstahl. Dieser Wesenszug entsprach nicht dem friedfertigen und aufrichtigen Charakter der Waldelfen.
Die kriegsführenden Weißelfen entführten im Grenzland viele Knaben dieser gemischtrassigen Paare und bildeten sie in ihren Lagern zu Kriegern aus. Für die Mädchen aber hatten sie keine Verwendung. Sie verwilderten und rotteten sich im La ufe der Zeit zu immer größeren Banden zusammen. So war das kleine Reich der Feinen - der feinen Frauen - entlang der felsigen Küste der Tanara entstanden.
Gelegentlich fanden die Feinen auch Knaben im Wald, aber die Knaben, die sie einfingen und die bei ihnen zu Männern heranwuchsen, wurden als minderwertige Wesen angesehen und höchstens als Diener oder Arbeiter gehalten, ansonsten nur zur Befriedigung benutzt. So wie die Drohnen in einem Bienenstock!
Deshalb war das kleine Volk der Feinen für einen Mann wie Tisor bloß eine Horde von barbarischen Weibern.
Tisor von der großen Eiche war viel zu alt, um sich noch irgendwelchen Gefühlsausbrüchen - wie Liebe, Abscheu oder Hass - hinzugeben. Aber er mochte diese Weibergesellschaft nun mal nicht.
Keiner der Waldelfen mochte sie!
Immer wieder schickten sie ihre Diener zu Brandrodungen in den Wald von Tanara. Der Boden des felsigen Küstenstre ifens, auf dem sie hausten, war nie besonders fruchtbar gewesen, und schon lange ausgelaugt. Und so entfernten sich die Feldarbeiter der Feinen immer weiter von der Küste, um in den Wälder der Tanara neue Felder anzulegen. Und wenn diese Felder am Ende waren, starteten sie neue Brandrodungen.
Aber die Waldelfen waren auf der Hut. Gestern hatten ihre Späher einen neuen Brandrodungstrupp gesichtet, auf den Tisor von der großen Eiche wartete. Er
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