Die Angune (German Edition)
wollte ihnen einen Denkzettel verpassen und sie nach Hause schicken.
Denn dies war seine Aufgabe im Reich der Waldelfen.
Sie nannten sie "Ratte".
Die Eltern des Mädchens, das Ratte genannt wurde, lebten im Grenzgebiet zwischen beiden Völkern. Ihr Vater war ein Waldarbeiter vom Volk der Weißelfen, der durch Diebstahl, Wilderei und ein paar Hühnern und Ziegen zu überleben versuchte. An ihre Mutter konnte Ratte sich nicht erinnern. Soldaten der Weißelfen hatten die zierliche Waldelfe missbraucht und umgebracht, als Ratte einen halben Sonnenumlauf alt war.
Bei Ratte selbst hatten sich die weißelfischen Gene durc hgesetzt. Genau wie ihr Vater war sie von großer, schlanker Statur. Allerdings hatte ihr Vater graubeiges Haar, während Rattes Haar braun war. Ihr Vater hatte ihr einmal gesagt, sie hätte das Gesicht und die Haare ihrer Mutter. Dazu gehörten auch die hohlen Wangen und die leicht mandelförmigen Augen.
Bis zu ihrem ersten Sonnenumlauf hatte Ratte kein Kle idungsstück besessen und hatte mit drei älteren Geschwistern zumeist alleine in einer kleinen Waldhütte gehaust, da ihr Vater selten zuhause war. Dann fand Ratte eines Tages ein Stück Leinenstoff und konnte ihre Blöße zum ersten Mal bedecken. Und dieser Fund sollte ihr weiteres Leben bedingen. Da sie nie etwas bekommen hatte, nahm sie sich fortan einfach alles was sie gebrauchen konnte.
Ratte wurde zum Dieb und zum Leichenfledderer.
Im Alter von fast zwei Sonnenumläufen war Ratte plötzlich allein in der dreckigen Hütte gewesen. Von ihrem Vater hatte sie schon seit anderthalb Sternenhäusern nichts mehr gehört, und von ihren drei Geschwister waren zwei gestorben, während die letzte Schwester sich einem Fremden an den Hals geworfen hatte und nie wieder etwas von sich hören ließ.
Und so verließ das dreckige und halbnackte Kind, das die anderen Ratte nannten, ebenfalls die kleine verkommene Hütte am Waldrand und zog in das nahegelegene Dorf Skrub. Dort lebte es noch einen halben Sonnenumlauf als Straßenkind und lernte das erbarmungslose Gesetz des Stärkeren.
Skrub war eine kleine Ansiedelung, die drei Kilometer entfernt vom gleichnamigen Grenzposten lag, und in der Hauptsache von der Färberei lebte.
Für freigeborene Personen besaß dieser Beruf kaum A ttraktivität, da die Färber, genauso wie die Gerber, ohne den Einsatz von abgestandenem Urin zur Vergärung der Pflanzenfasern nicht auskamen. Und der Gestank der Mischung aus Wollfett und Urin war schrecklich. Ferner herrschte bei den Färbern die Meinung, dass der Urin betrunkener Männer dem Herauslösen der Farbstoffe besonders dienlich sei. Außerdem lief das Abwasser der Färber früher oder später immer wieder in die Bäche der Umgebung zurück und verunreinigte das Trinkwasser. Färber und Gerber waren deshalb unreine Berufe, die entweder von Sklaven oder von minderwertigen Personen - wie den Mischlingen aus dem Grenzland - ausgeübt wurden.
Insgesamt war es ein armseliges Leben, denn die Färber von Skrub wurden für ihre ungesunde Tätigkeit von den u mherziehenden Händlern schlecht entlohnt, die ihrerseits aber gute Gewinne in den Städten erzielten. Für Ratte allerdings hatte die Färbergemeinschaft den Vorteil, dass es bei den oft betrunkenen Färbern meistens etwas zu klauen gab.
Eines Nachts aber - sie war gerade 3¼ Sonnenumläufe alt geworden - wurde Ratte selbst überfallen. Sie wurde in ihrem kleinen Versteck niedergeschlagen und weggeschleppt.
Sie war zwei Tage bewusstlos, und als sie im Wald wieder aufwachte, war das Blut an ihren Schenkeln längst wieder g etrocknet.
Und sie schaute in das Gesicht von zwei bewaffneten Fra uen. Ein Spähtrupp der Feinen hatte das verletzte Mädchen gefunden.
Die Frau saß aufrecht und in würdevoller Haltung auf e inem rückenlosen Scherenstuhl und ließ sich von drei Dienerinnen die Haare herrichten.
Filzlocken waren eine lange und mühselige Angelegenheit und verlangten der Frau viel Geduld ab. Seit fünf Stunden schon arbeiteten die drei Dienerinnen ohne Unterbrechung an ihrem Haar. Mit einem Kamm aus Elfenbein teilten sie das Haar in fingerdicke Strähnen und zwirbelten sie zwischen Daumen und Zeigefinger hin und her bis kleine Knoten en tstanden. Vereinzelt wurden durchgebohrte, weiße Perlen in die Haarsträhnen eingearbeitet. Wenn eine Filzlocke fertig war, wurden die restlichen Haarspitzen mit einer Nadel eingehäkelt, um ein festes Ende zu bilden.
Eine Strähne nach der anderen wurde so bearbeitet. Bi
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