Die Angune (German Edition)
kurze Rast. Im Windschatten eines großen Felsens setzte sie sich auf einen Stein und spürte sofort die Wärme der großen Sonne auf ihren Wangen. Mit Erleichterung schälte sie sich aus ihrem dicken, steifen Umhang und genoss die wärmenden Strahlen.
In diesem Moment der Entspannung kamen die Zweifel zurück! Sie hatte gehofft, auf eine Straße zu treffen, oder wenigstens auf einen Weg, vielleicht sogar auf einen Bauernhof, in dem sie Menschen antraf. Aber hier war nichts! Nichts außer Insekten, die von Blüte zu Blüte hüpften, einem Raubvogel der sich hoch über ihr in der Thermik treiben ließ, und vereinzelten, scharfen Warnpfiffen von Tieren, die Cornelia aber nicht zu Gesicht bekam. Ansonsten war dies wahrscheinlich der einsamste Platz auf Erden an dem sie jemals gewesen war, und sie fing an, ihre Entscheidung für eine Erkundung der Gegend zu bereuen.
»Was, zum Teufel, tust du hier! «, rief sie laut und drehte sich nach allen Seiten um, die Arme weit ausgebreitet.
Es war als wäre sie in einem Traum gefangen! Sie musste zurück ins Ansenbachtal und diesem Hirngespinst ein Ende bereiten!
Sie stand auf, warf den schweren Kapuzenmantel über und machte sich nach einem letzten Blick auf die unter ihr liegende Bergwelt wieder auf den Weg zur Höhle.
›War da eine Bewegung? ‹
Es war als hätte Cornelia unten im Tal eine flüchtige Bew egung gesehen!
› Da! ‹
Angestrengt starrte Cornelia ins Tal hinunter. Da lief doch tatsächlich eine Person!
Da war jemand!
Endlich!
Sie war doch nicht allein hier oben!
Fast hätte Cornelia vor Begeisterung laut aufgeschrienen, aber sie brach sofort ab.
Es war nicht nur ein Mensch, es war ein Reiter!
Cornelia schaute genauer hin. Es war eindeutig ein Reiter, eine Person die auf einem ... Strauß ritt!
Sie sackte förmlich in sich zusammen: eine Person die auf einem Strauß ritt! Ein Strauß als Reittier im Hochgebirge! War dies nur eine weitere Wahnvorstellung eines einsamen und kranken Geistes?
Sie sah lauter Sachen die es nicht gab, die es nicht geben konnte, und wahrscheinlich war dieser Reiter nur eine weitere Fata Morgana!
Tränen schossen Cornelia in die Augen. Diese Qual musste ein Ende bekommen! So konnte es nicht weiter gehen! Hoffentlich wachte sie bald aus diesem Irrsinn auf!
Sie hatte genug von diesen Phantasmen! Sie musste umke hren! Sie brauchte jemand der sie in die Arme nahm! Sie brauchte eine Person bei der sie sich fallenlassen konnte und der sie wieder auffing! Sie sehnte sich nach Andreas Schmidt, nach der geschmackvollen Gemütlichkeit seines Bauernhofes in Nocher! Bei Andreas könnte sie sich fallenlassen, bei ihm konnte sie sich ausruhen und wieder den Weg in die Normalität finden.
Und das, was sie hier durchmachte, würde sie schnellstens vergessen! Sie würde es vollständig verdrängen! Sie würde es mit niemandem teilen!
Keine Erinnerungen, keine Notizen, keine Geschichte!
Es würde auf immer und ewig ihr Geheimnis bleiben. Sie wollte nicht enden wie die alte Riedhmeyer, von aller Welt belächelt und als verrückt erklärt.
Mit wässerigen Augen schaute Cornelia dem Reiter nach, der auf seinem Strauß dreihundert Meter unter ihr durch den Talgrund jagte. Er blieb immer wieder stehen, schaute kurz zurück und ließ seinen Strauß dann weiterrennen.
›Eigenartig! ‹
Für einen Moment vergaß Cornelia ihre Niedergeschlagenheit. Sie musste sich die Tränen aus den Augen wischen um den Mann besser zu erkennen.
›Es sieht so aus als würde er fliehen, vor etwas davon laufen! ‹
Cornelia suchte das linke Tal hinter ihm ab, konnte aber nichts erkennen.
Plötzlich bog der Reiter nach rechts ab, und rannte auf die Bergschulter zu, auf der Cornelia stand. Ihr fuhr der Schreck durch die Glieder!
Aber bei einem dicken Felsblock blieb der Reiter stehen, sprang von seinem Strauß, hockte sich hin und tat etwas das Cornelia nicht erkannte. Dann saß der Reiter wieder auf, spähte kurz um den Block herum und trieb seinen Strauß weiter.
›Was zum Teufel ... ‹
Cornelia schaute der Person nach, bis sie sie aus den Augen verlor. Und dann war sie wieder allein. Hoch über ihr im Himmel erklang der Schrei des Raubvogels, und irgendwo zwischen den Azaleen pfiffen die Nagetiere Alarm. In Cornelias Kopf herrschte Leere. Sie starrte hinunter ins Tal.
Was hatte der Reiter dort gewollt? Vielleicht hatte er nur gepinkelt. Er war in Eile gewesen. Hatte er gar etwas ve rsteckt?
Sollte sie ...?
Oder sollte sie nicht?
Die Neugierde
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