Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
letzte Mal im YMCA aufgesucht hatte – wann war das gewesen, vor etwa drei Monaten? Ich hatte ihm versichert, ich würde seine Informationen anonym behandeln, woraufhin er sofort eine Antwort parat hatte: Sie werden es trotzdem erfahren.
Richtig. Das war die Nacht gewesen, in der Emily geboren worden war. Ich war direkt vom YMCA nach Hause gerast und hatte Talia ins Mercy General gebracht, wo sie nach elf Stunden Wehen unseren kleinen, rotgesichtigen und verschrumpelten Schatz zur Welt gebracht hatte.
Ich fühlte Rückenwind. Heute war alles perfekt gelaufen. Wenn ich jetzt noch dieses letzte Kaninchen aus dem Hut zaubern konnte …
Ich schlenderte in eine Ecke des Konferenzraums und rief ihn auf dem Handy an. Es klingelte zweimal, bevor er dranging.
»Hallo?«
»Ernesto? Hier ist Jason Kolarich. Der Anwalt, der …«
»Ja, Jason.« Er klang kurz angebunden und feindselig.
»Ich habe wenig Zeit, daher komme ich gleich zur Sache …«
»Ich hab Ihnen nichts zu sagen. Wann verstehen Sie das endlich? Gar nichts.«
»Warten Sie. Eine Sekunde. Ich kann Sie schützen. Ich kann veranlassen, dass die Regierung Sie in ein Zeugenschutzprogramm aufnimmt …«
»Die Regierung. Klar doch, die Regierung. Mann, Sie kapieren’s einfach nicht.«
»Dann helfen Sie mir, es zu …«
»Hören Sie. Rufen Sie mich nie wieder an. Ich habe nichts zu sagen.«
Es folgte ein lautes Klicken. Ich seufzte und klappte das Handy zu. Als ich mich umwandte, starrten mich Riley, Lightner und Hector Almundo an.
»Ernesto Ramirez«, erklärte ich.
»Ernesto … oh Himmel, Junge.« Lightner kicherte. »Die Sackgasse.«
Hector blickte von seinem Teller mit Hühnchen und Reis auf, den wir beim Lieferservice für ihn bestellt hatten. Er sah heute besser aus als in all den letzten Tagen und Wochen. Bisher hatten wir in den Hauptanklagepunkten Schlag um Schlag einstecken müssen, doch heute war es gut gelaufen, und seine Miene spiegelte diese Wende wider. Hector wahrte normalerweise tapfer die Fassade. Er war ein eigensinniger und stolzer Mann, der nicht gerne Schwächen offenbarte – was unseren Austausch mit ihm gelegentlich schwierig gestaltete. Er geriet schnell in Wut und schien ziemlich nachtragend zu sein, was ihn vermutlich zu einem effektiven Politiker machte. Vermutlich erklärte das auch seine Scheidung, die acht Jahre zurücklag; auch wenn Joel Lightner eine andere Theorie favorisierte – nämlich, dass Hectors wahre Neigungen gar nicht dem weiblichen Geschlecht galten.
Seine politische Laufbahn war die reinste Bilderbuchkarriere. Er war in einem üblen Viertel aufgewachsen, hatte die Highschool abgebrochen, war dann aber irgendwann wieder zurückgekehrt, absolvierte das College und eine juristische Ausbildung. Er hatte ganz unten in der Stadtverwaltung begonnen, arbeitete sich dann aber rasch nach oben, indem er etliche Überstunden in die politischen Kampagnen des Bürgermeisters investierte. Das brachte ihn in dessen Nähe – vermutlich verband die beiden mehr eine Zweckallianz als echte Freundschaft –, und als er sich irgendwann für die Wahl
zum Senator aufstellen ließ, gewann er. Er war ein Kämpfer. Wenn er sich erst mal in einen Gegner verbissen hatte, ließ er nicht mehr locker. Vermutlich hätte er Joey Espinozas Kopf auf eine Stange gespießt und in aller Öffentlichkeit ausgestellt, wenn er gekonnt hätte. Und, ja, wir gingen davon aus, dass er der Drahtzieher der Schutzgelderpressungen im Verein mit den Columbus Street Cannibals war; auch wenn unserer Einschätzung nach der Mord an Adalbert Wozniak nicht Hectors Kragenweite war.
»Wer ist Ernesto Ramirez?«, wollte Hector wissen.
»Ein Kerl, dem wir während der Befragungen im Viertel begegnet sind«, erklärte Lightner. »Er betreibt eine gemeinnützige Organisation, die sich La Otra Familia nennt oder so ähnlich. Er war eine Art Mentor von Eddie Vargas. Wir wollten Informationen von ihm, aber er meinte, er hätte keine Ahnung von nichts. Genau wie hundert andere seiner Sorte. Doch dieser Ramirez muss sich irgendwie verdächtig die Backe gekratzt oder die Augen abgewandt haben, als er geantwortet hat, weswegen unser junger Jason hier davon überzeugt ist, dass der Mann Informationen besitzt, die eine ganz große Wende in unserem Fall bringen können.«
Paul grinste. Lightner und Riley machten sich von Zeit zu Zeit über meinen jugendlichen Eifer – will heißen, meine Naivität – lustig.
Aber nach dem heutigen Tag hatte ich deutlich an
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