Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
tat.
Keiner von uns beiden wusste, was er sagen sollte. Vermutlich war das einer dieser Momente, in denen Taten eine deutlichere Sprache sprechen als Worte. Ich hatte ziemlich klargemacht, wie ich über das dachte, was der Gouverneur gerade getan hatte. Und jetzt stand ich da und starrte auf den Teppich. Auch der Gouverneur hatte, jedenfalls soweit ich das mitbekam, keine Ahnung, wie er weiter vorgehen sollte.
»Wie mir scheint, liegt hier ein kleines Missverständnis vor«, zitierte er mit lustig verstellter Stimme den berühmten Satz, um die Spannung zu lösen. Oder um seine eigene Beschämung zu überspielen. Er versuchte, über seine Bemerkung zu lachen, aber es gelang ihm nicht ganz. Ich hoffte auf ein erlösendes Telefonklingeln oder etwas Ähnliches.
»Hören Sie«, sagte ich schließlich, »wenn ich irgendetwas getan habe, das Sie …«
»Nein.« Er hob eine Hand. »Sie brauchen sich nicht zu entschuldigen. Es war mein Fehler. Ich bin betrunken, das ist alles. Vergessen wir das Ganze einfach.«
»Natürlich.«
Sämtliche Farbe war aus seinem Gesicht gewichen. Und auch sein Rausch schien auf einmal wie weggeblasen. Er wirkte absolut nüchtern und zutiefst beschämt. Der Gouverneur war nicht nur zurückgewiesen worden – er hatte auch noch etwas extrem Intimes offenbart.
»Ich sollte jetzt gehen«, sagte ich. Zweifellos die Untertreibung des Abends.
»Ja, klar. Morgen ist ein wichtiger Tag. Die Hinrichtung und all das.«
Da mir nichts mehr einfiel, womit ich die quälende Peinlichkeit dieser Situation hätte auflockern können, suchte ich rasch das Weite. Mit ausdruckslosem Gesicht marschierte ich am Wachmann des Gouverneurs vorbei und hielt den Atem an, bis ich den Aufzug erreichte. Ein paarmal fuhr ich mir mit der Hand durch die Haare, als könnte ich damit die Erinnerung an diese Szene aus meinem Gehirn löschen. Später im Taxi drückte ich meinen Kopf fest an die Fensterscheibe.
Ich wollte nur noch nach Hause, eine lange, sehr heiße Dusche
nehmen und mich dann unter meine Bettdecke verkriechen. Doch zuvor musste ich Tucker noch den FeeBee übergeben — was mich auf die Frage brachte, wie sich diese letzten Minuten in der Suite wohl auf Band anhören mochten.
Da es in diesen Tagen abends oft sehr spät wurde, wartete Tucker nur noch selten in Suite 410 auf mich. Daher rief ich ihn auf seinem Handy an. Bald darauf betrat Lee Tucker mein Haus durch den Hintereingang.
Er trug ein Sweatshirt, zerrissene Jeans, eine abgewetzte Mütze und hatte einen Brocken Kautabak im Mund. Seine Augen waren leicht geschwollen, und auf seiner einen Wange war noch der Abdruck des Kopfkissens zu erkennen. Offenbar war er erst vor kurzem aus dem Schlaf gerissen worden – vermutlich durch meinen Anruf. Er nutzte sicher jede Gelegenheit für einen kurzen Schlummer. Sein Tag endete nicht um Mitternacht, sondern fing da erst richtig an. Jetzt, wo die Kampagne auf Hochtouren zu laufen begann und sich das Ende der Nachforschungen näherte, hörten diese Jungs den F-Bird sofort nach Erhalt ab und analysierten die Aussagen.
»Bevor ich gehe – gibt es irgendwelche guten Nachrichten? «, fragte er.
Ich hätte beinahe gelacht. Vermutlich würde sich Tucker über die letzten Minuten der Aufzeichnung königlich amüsieren.
»Nicht wirklich«, sagte ich und versuchte mich zu konzentrieren. »Keine großartigen Bekenntnisse. Vermutlich werden Sie beim Anhören sogar den Eindruck kriegen, als wüssten Madison Koehler und der Gouverneur weder über Greg Connollys Informantentätigkeit für Sie noch über die wahren Umstände seines Todes Bescheid. Außerdem könnte man fast glauben, dem Gouverneur sei der Name George Ippolito
kaum geläufig und er hätte nur eine vage Ahnung von dem Deal mit Rick Harmoning.«
»Mann, dieser Kerl ist so glitschig wie ein Aal«, sagte Tucker.
»Ja, aber darum geht’s gar nicht, Lee. Es ist nicht so, dass er die Themen von sich aus vermeiden würde. Er geht bloß nie ins Detail. Sobald man irgendein heikles Thema anschneidet, blockt Madison das Gespräch sofort ab.«
»Richtig. Sie schirmt den Boss ab. Die klassische Arbeitsteilung. «
Was die Abschirmung betraf, die Madison Gouverneur Snow angedeihen ließ, war ich mir keineswegs so sicher wie mein FBI-Kontaktmann. Vielleicht hatte Tucker recht. Womöglich wusste Snow über sämtliche Machenschaften bestens Bescheid – ja, dirigierte sie eventuell sogar –, und Madison sorgte lediglich dafür, dass er sich in der Öffentlichkeit nicht
Weitere Kostenlose Bücher