Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
wurden und nur einer von uns überlebte. Vielleicht gab es gar niemanden über ihm.
Mein Handy klingelte erneut. Wieder Hector. Jetzt konnte kein Zweifel mehr bestehen – er hatte mit dem Gouverneur gesprochen. Er sollte den Vermittler spielen, um einen drohenden Flächenbrand möglichst schon im Keim zu ersticken.
Ich starrte auf das Handy, das viermal klingelte und dann verstummte, bis mir ein kurzes Vibrieren und ein Summen verrieten, dass eine zweite Nachricht hinterlassen worden war.
Also beschloss ich, Hector zurückzurufen.
82
Hector ging beim zweiten Klingeln dran. »Hey«, sagte er, spürbar erleichtert, dass ich mich meldete. »Ich hab mit Carl gesprochen. Ich hab gehört was, na ja, passiert ist.«
»Hab ich mir schon gedacht.«
»Ich hab Ihnen doch gesagt, dass Sie nicht bleiben müssen, oder?«
»Ja, aber es wäre nett gewesen, wenn Sie sich ein bisschen spezifischer ausgedrückt hätten, Hector.«
»Carl fühlt sich schrecklich. Er ist tief beschämt.«
»Schon in Ordnung, Hector.«
»Hören Sie – Sie können das für sich behalten, oder? Als ein Geheimnis?«
Eindeutig war das der eigentliche Grund des Anrufs – und nicht die Entschuldigung.
»Wem sollte ich denn davon erzählen?«
»Schon klar«, sagte er. »Aber, Jason, ich mein es ernst. Wenn irgendwas davon nach außen dringt, ist Carl erledigt. Dann kann er einpacken.«
In unseren modernen Zeiten? »Na, so schlimm wird’s ja wohl nicht sein«, sagte ich, revidierte meine Meinung jedoch, bevor ich den Satz zu Ende gebracht hatte. Klar, in vielen Bereichen schien es regelrecht angesagt, zum anderen Ufer zu wechseln. Aber jetzt, wo ich genauer darüber nachdachte, galt das für Filmstars und Barmänner im Starbucks und womöglich nicht für Gouverneure in großen Staaten des Mittleren Westens. Selbst anderswo gab es nur wenige Politiker, die sich offen zu ihrer Homosexualität bekannten. Irgendwann hatte es mal einen Gouverneur im Osten gegeben, in Jersey, glaube
ich, der sich bei einer Pressekonferenz geoutet hatte; aber auf diese Veranstaltung folgte schon bald der Rücktritt. Vielleicht galt immer noch der alte Spruch: Es gibt nur zwei Dinge, die eine politische Karriere zuverlässig beenden können – mit einem toten Mädchen oder einem lebendigen Jungen im Bett erwischt zu werden.
»Sie müssen mir sagen, ob Sie wirklich verstanden haben, was ich Ihnen gerade erklärt habe«, sagte Hector.
»Ich dachte, das hätte ich gerade.«
Schweigen. Dann: »Was wünschen Sie sich, Jason? Sie können haben, was immer Sie wollen. Ernsthaft.«
»Ich will den freien Sitz im Obersten Gerichtshof.«
»Im Obersten …« Zu meiner Überraschung dachte er tatsächlich einen Moment lang darüber nach. »Ich meine, das ist ziemlich … aber vielleicht können wir über das Berufungsgericht reden?«
»Hector, das war ein Witz! Ein Porsche 944, gelb mit schwarzer Innenausstattung, das ist mehr als ausreichend.«
»Mir ist nicht ganz klar, ob Sie das ernst meinen oder nicht.«
»Das merke ich.«
»Jason. Sie müssen das verstehen, Sie halten seine ganze politischen Zukunft in Ihren …«
»Ich verstehe, dass es Ihnen ernst damit ist, Hector. Ich werde das niemandem gegenüber erwähnen, okay? Mir ist das wahrscheinlich peinlicher als ihm.«
»Das möchte ich bezweifeln.«
Am anderen Ende der Leitung hörte ich im Hintergrund etwas zersplittern, es klang wie ein Glas, und dann ein Fluchen. Hector bedeckte die Muschel und sagte irgendetwas in ärgerlichem Tonfall. Die Stimme, die geflucht hatte, war die eines Mannes.
Richtig. Einige aus Hectors Verteidigungsteam hatten es schon immer vermutet; vor allem Lightner war sich absolut sicher über Hectors sexuelle Präferenzen gewesen. Und jetzt wurde mir auch klar, warum Hector immer in der Nähe von Gouverneur Snow war. Bisher hatte ich vermutet, er wäre ein Aushängeschild für die Latinowähler. Stattdessen schien es sich um eine gewisse persönliche Eigenschaft zu handeln, die sie miteinander teilten. Ich fragte mich, ob die beiden eine Beziehung miteinander hatten, doch das war nur schwer vorstellbar. Viel eher waren sie wohl einfach zwei öffentliche Figuren, deren freundschaftliche Verbindung aus einer gemeinsamen persönlichen Vorliebe resultierte.
Gestern hatte ich noch gedacht, ich würde möglicherweise einen schwulen Politiker kennen; heute war ich mir sicher, dass ich gleich zwei kannte.
»Hector, im Ernst, ich würde niemals …«
Doch meine Kehle war plötzlich wie
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