Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
Sticheleien.
Marie sagte: »Ihr Name ist Esmeralda Ramirez.«
11
Sechs Monate lang hatte ich nicht mehr an Ernesto Ramirez gedacht. Nach dem Tod von Talia und Emily hatte ich mich aus der Gesellschaft ausgeklinkt. Der Prozess ging ohne mich zu Ende. Ich hatte nicht mehr bei Ernesto nachgehakt und vermutlich auch sonst niemand.
Jetzt, wo ich darüber nachdachte, erschien es mir auf einmal seltsam, dass ich mir selbst die ganze Zeit über Vorwürfe gemacht hatte, weil ich an diesem Abend nicht selbst hinter dem Steuer des SUV gesessen und meine übermüdete Frau die kurvenreiche Strecke im Regen hatte allein fahren lassen,
dabei aber den eigentlichen Grund für meine Abwesenheit – Ernesto – nie in die Gleichung mit einbezogen hatte.
Doch nun kehrten mit einem Schlag die Erinnerungen zurück; Bilder aus dieser Zeit, zumeist die albtraumhaften von der Unfallstelle, die Identifizierung der Leichen, der Anruf bei Talias Eltern, aber auch Ernesto – sein zweideutiger Ausdruck, als wir ihn das erste Mal zum Wozniak-Mord befragten; später die Angst in seiner Stimme, als ich ihn im Fitnessstudio aufsuchte.
Und vor allem die Panik in seinen Augen, als ich ihm die Zwangsvorladung vor die Brust klatschte und ihn zwingen wollte, sein Wissen im Zeugenstand preiszugeben. Ich fragte mich, ob Ernesto wohl in der folgenden Woche im Gericht erschienen war. Natürlich war es im Grunde ein Bluff von mir gewesen. Die Zwangsvorladung war echt, das schon, dennoch hätte ich meine Androhung, ihn einen ganzen Tag lang auf dem Zeugenstand auszuquetschen, niemals wahr gemacht. Um keinen Preis hätte ich einen solchen Blindflug vor der Jury riskiert. Zum damaligen Zeitpunkt hatte ich noch nicht mal die Staatsanwaltschaft über die Zwangsvorladung informiert. Ich wollte Ernesto einfach nur ein bisschen unter Druck setzen.
Esmeralda Ramirez folgte Marie in mein Büro. Sie war klein und hatte langes, schwarzes, streng nach hinten gebundenes Haar. Ihr Gesicht wirkte jugendlich, abgesehen von den tiefen Sorgenfalten, die sich über ihre Stirn zogen. Ihre ganze Haltung drückte Bescheidenheit aus, sie hielt ihre Handtasche mit beiden Händen umklammert, und beim Eintreten blickte sie nur kurz zu mir auf. Ich schüttelte ihre Hand, wobei sie meine sanft drückte.
»Danke, dass Sie mich empfangen«, sagte sie. »Wissen Sie,
wer ich bin?« Soweit ich mich erinnerte, stammte sie aus Mexiko, und ihr Akzent bestätigte das, trotzdem sprach sie einigermaßen fließend.
»Ich kenne Ihren Ehemann.«
Sie musterte mich einen Moment. Ihr Ausdruck veränderte sich geringfügig. »Sie kennen ihn?«
»Ein wenig, ja.« Ich verstand ihre Frage nicht.
»Mein Mann ist tot«, sagte sie.
»Oh, ich … das tut mir …«
Ich brachte den Satz nicht zu Ende. Entsetzen erfüllte meine Brust. Ernesto Ramirez war tot, und seine Witwe stand hier in meinem Büro. Und ganz offensichtlich war sie nicht gekommen, damit ich seinen Nachlass regelte.
»Sie haben es nicht gewusst«, stellte sie fest.
Ich schüttelte den Kopf. Nein.
»Aber Sie waren der Anwalt, oder?«
Der Anwalt. Ich legte die Hände flach auf den Schreibtisch. »Vor sechs Monaten habe ich versucht, ein paar Informationen über einen Fall von ihm zu bekommen, ja. Nehmen Sie darauf Bezug?«
»Ich weiß nicht, worauf ich Bezug nehme.« Eine Spur von Bitterkeit schlich sich in ihre Stimme. »Mein Ehemann hat mit mir nie über solche Dinge gesprochen. Es war seine Aufgabe, sich darüber Sorgen zu machen, nicht meine. Ich wusste nur ganz wenig.«
»Erzählen Sie mir, wie er gestorben ist, Mrs. Ramirez.«
»Er ist erschossen worden.« Ihre dunklen Augen blickten starr.
Ich stählte mich innerlich für die nächste Frage. Ich hatte das Gefühl, die Antwort zu kennen, bevor ich sie überhaupt stellte. »Wann ist das passiert?«
»Am zweiundzwanzigsten Juni. Ein Freitag.«
Ich schloss die Augen. Der zweiundzwanzigste Juni war der Tag, an dem ich ihm die Zwangsvorladung übergeben hatte. Der Tag, an dem ich im Büro auf seinen Anruf gewartet hatte, anstatt mit Talia und Emily zu meinen Schwiegereltern zu fahren. Am zweiundzwanzigsten Juni endete das Leben, wie ich es bisher gekannt hatte.
»Sagt Ihnen das was?«, fragte sie mich.
»Vielleicht«, erwiderte ich, obwohl vielleicht mehr als untertrieben war. »Wurde der Täter gefasst?«
»Nein. Man hat ihn im Liberty Park erschossen. Das ist La Zona. Wissen Sie, was das ist?«
Ich nickte. Das dürfte die Polizei bei ihren Ermittlungen vor erhebliche
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