Die Anklage - Ellis, D: Anklage - Breach of Trust
verschiedene Viertel gekurvt, hatten ihre Atmosphäre auf uns wirken lassen, hatten uns Häuser angeschaut und sogar an Besichtigungen teilgenommen. Dabei hatten wir uns unser zukünftiges Heim ausgemalt; etwas, das ich mir von meinem Gehalt als Staatsanwalt niemals hätte leisten können, aber das Träumen hatte Spaß gemacht.
Ich musste an Charlies netten Besuch gestern Abend denken, bei dem er hatte durchschimmern lassen, dass er mich überwachte. Kurz blickte ich in den Rückspiegel, aber die Straßen waren leer. Ich wurde nicht verfolgt.
Ich schlug eine andere Richtung ein als üblich. Ich fuhr zur Southwest-Side. Dort wirkte es heute, am ersten Weihnachtsfeiertag, ungewöhnlich still, ja fast verlassen. In dieser Gegend wohnten hauptsächlich Latinos, daher war sie überwiegend katholisch. Nichts hatte geöffnet. Die Häuser waren bescheiden. Klein und eng zusammengedrängt. Als ich am Liberty Park vorbeikam, in dem Ernesto Ramirez ermordet worden war, überlief mich ein kalter Schauer. Dann bog ich nach links in Richtung Süden, nach ein paar Blocks wieder nach Westen, dann erneut nach Süden und hielt nach der Hausnummer 6114 South Hastings Ausschau.
Ernesto Ramirez’ Familie lebte im Erdgeschoss eines dreistöckigen Ziegelhauses. Hinter einem hüfthohen Zaun und einem winzigen Vorgarten, der um diese Jahreszeit ruhte, führte eine Betontreppe zu zwei roten Türen, eine davon für die Familie Ramirez, die andere für die Bewohner der oberen Stockwerke.
Vom Wagen aus konnte ich im Fenster der Ramirez-Wohnung einen Weihnachtsbaum erkennen. Eine kleine Gestalt mit einem dichten dunklen Haarschopf und seitlich abstehenden Zöpfchen hüpfte vorbei. Vermutlich die Tochter, die fünf Jahre alte Mercedes. Ich stieg aus, trat durch die Gartenpforte und stieg die Treppe zur Eingangstür hinauf. Vom Treppenabsatz aus konnte ich sie drinnen im Apartment hören, die gedämpften Schreie der Kinder und das Gelächter der Erwachsenen. Und ich war froh, ja fast erleichtert darüber. Das war sicher kein allzu fröhliches Fest gewesen für die
Ramirez-Familie. Ich legte den Finger auf die Klingel, entschied mich dann aber anders. Ich ließ die Einkaufstüte einfach auf dem Treppenabsatz stehen und stieg die Treppe wieder hinunter. Als ich um den Wagen zur Fahrertür ging, hörte ich ihre Stimme.
»Hallo.«
Ich wandte mich um. Essie Ramirez stand jetzt dort, wo ich gerade gestanden hatte, die Arme wärmend um die Brust geschlungen. Sie trug einen laubgrünen Rollkragenpullover und Jeans. Ihr Atem bildete lange Fahnen in der frostigen Luft.
Ich winkte ihr. »Frohe Weihnachten.«
»Ihnen auch.« Sie blickte nach unten auf die Einkaufstüte. »Geschenke?«
»Für Ihre Kinder.«
»Kommen Sie doch rein.«
»Besser nicht.«
»Kommen Sie, bitte.«
Ich zögerte, dann schüttelte ich den Kopf. Nicht unbedingt, weil ich mich wie ein Eindringling gefühlt hätte. Ich war nur einfach nicht scharf auf dieses Familien-Weihnachts-Ding, besonders mit der Familie von jemand anders. »Ein anderes Mal«, sagte ich.
Sie schwieg, betrachtete mich, rieb sich die Arme, um sie zu wärmen. Das dunkle Haar hing ihr bis über die Schultern. Wenn ich mich recht erinnerte, war sie Anfang dreißig, doch sie wirkte eher wie Anfang zwanzig.
»Wie geht’s den Kindern?«, fragte ich.
Sie wackelte mit dem Kopf. »Kinder stecken manches besser weg als Erwachsene«, erwiderte sie. »Sie haben gute Tage und schlechte Tage. Heute ist ein guter Tag für sie.«
»Für Ihre Kinder«, wiederholte ich. »Nicht für Sie?«
Sie schwieg einen Moment. »Die Feiertage sind am härtesten. Es soll eigentlich die schönste Zeit im Jahr sein, aber das macht es nur noch … na ja, es ist irgendwie hart. Sind Sie verheiratet?«
Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. »Nein«, sagte ich.
Ich blickte erneut durchs Fenster. Jetzt konnte ich auch den Jungen sehen – Ernesto, jr. Er sah aus wie eine Miniaturausgabe seines Vaters, mit der stämmigen Figur und dem stolzen Kinn.
»Kommen Sie doch rein«, bot sie mir erneut an.
»Ich muss gehen. Ich wollte nur … ich wollte nur die Geschenke abliefern.«
Sie musterte mich einen Augenblick lang. Dann sagte sie: »Ich habe letzte Woche einen Anruf von meinem Vermieter gekriegt.«
Ich nickte. »Hat er Ihnen Frohe Weihnachten gewünscht?«
»In gewisser Weise, ja.« Sie lächelte kurz. »Er hat in letzter Zeit häufiger angerufen. Meistens, weil wir zu spät mit der Miete dran waren. Und normalerweise
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