Die Ankunft
viel ärmlicher war als heute hier. Mein Vater war Bauer, er hatte so viel zusammengespart, dass er mich nach Heidelberg zum Studium schicken konnte. Ich wollte unbedingt Arzt werden. Schon im ersten Semester ist es passiert, dass ich zum Vampir wurde.«
»Weißt du, was ich nie verstanden habe? Wieso könnt ihr am Tag mitten unter uns sein? Es hieß doch immer, dass ihr nur nachts eure Grüfte verlasst?«
»Dieses Märchen haben wir selbst verbreitet. Oder sagen wir mal, es ist von alleine entstanden und wir haben nichts dagegen unternommen. Ein bisschen Wahrheit ist allerdings daran. Ein frischer Leichnam darf, bevor sein Blut ausgetauscht ist, nicht zu lange in der Sonne liegen, weil er sonst zu schnell verwest. Aber sobald er als Vampir wieder auferstanden ist, kann er auch tagsüber wandeln. Ein Vampir jedoch, der sein Leben lang nur im Dunkeln, im Untergrund, lebte, hat Schwierigkeiten, sich an die Helligkeit und das Sonnenlicht zu gewöhnen. Seine Haut verträgt es nicht und er kommt um. So entstand der Mythos über die Geschöpfe der Nacht.«
Er lächelte fein.
»Und so konntet ihr jahrelang unter den Menschen leben, ohne dass einer was gemerkt hat.«
»Wir sind Menschen. Es gibt uns seit dem Anbeginn der Zeit. Unsere Schöpfung wurde in der Bibel nur nicht erwähnt. Nachdem Gott Eva erschaffen hatte, verliebte sich die unsterbliche Schlange in sie und reichte ihr die Frucht der Erkenntnis, um sie für sich zu gewinnen. Doch Eva liebte Adam. Als sie schließlich starb, war die Chance der Schlange gekommen. Sie schlüpfte zur Leiche Evas und biss sie, ersetzte deren totes Blut durch ihr eigenes unsterbliches. Daraufhin stand Eva als Vampirin wieder auf. Die Schlange wurde sterblich und verschied, als ihre Zeit gekommen war. Eva hingegen lebte mehrere Jahrtausende und schuf viele Nachkommen. So kann jeder Mensch, der von einem Vampir gebissen und getötet wurde, als Vampir weiterleben. Vorausgesetzt, sein Blut wird komplett ausgetauscht.«
»Was sagt Darwin zu deiner Schlangengeschichte?«
Er lachte leise. Es klang sehr sexy. Und sehr menschlich.
»Der meint, dass durch einen genetischen Zufall eine Form des Homo Sapiens es geschafft hat, ohne Herzschlag und Kreislauf zu existieren. Sie braucht nur immer frisches Blut, um das Gehirn und die Nervenbahnen mit Nährstoffen zu versorgen.«
»Trinkst du Menschenblut?«, wollte ich abschließend wissen und sah dabei vorsichtshalber in den Rückspiegel, ob mein Leben erneut durch vorüberrollenden Verkehr in Gefahr war, für den Fall, dass ich doch noch fliehen musste.
»Ja, aber nur Konserven. Weil ich oft in Krankenhäusern arbeite, komme ich an die Konserven ran. Ansonsten genügt Tierblut.«
Mir wurde ein wenig übel bei dem Gedanken daran, aber ich unterdrückte den Würgereiz.
»Ich überfalle jedenfalls keine Menschen und sauge sie aus, falls du das meinen solltest«, fügte er hinzu.
»Ja, das wollte ich wissen«, erwiderte ich verlegen.
Ich wusste nicht genau, wie ich das alles verarbeiten sollte. Ich hatte das Gefühl, mein Kopf sei kurz vor dem Bersten. »NICHT GENÜGEND ARBEITSSPEICHER VORHANDEN!«, schrie es in mir. Es hatte sich tatsächlich ein Vampir in unser beschauliches Dorf verirrt. Er hat mir von seinem Blut gegeben. Wieder verspürte ich einen Würgereiz. Hatte ich das Blut getrunken? So richtig mit Schlucken und auf der Zunge spüren? Ich konnte mich gar nicht daran erinnern. Vielleicht hatte er hinterher meine Erinnerung ausgelöscht.
Ich schielte zur Seite. Er wirkte jetzt unruhig. Hatte er Angst, dass ich ihn verraten würde?
»Ich sage es niemandem«, versprach ich erneut.
Er blickte mich an. An diesen seltsamen, leeren Blick musste ich mich noch gewöhnen. Oder auch nicht, denn er schüttelte den Kopf. »Ich werde weiterziehen. Ich werde diese Stelle als Arzt in Mullendorf nicht annehmen. Es hält mich sowieso jeder hier für einen Mörder.«
»Aber wenn du verschwindest, machst du dich erst recht verdächtig.«
Ich wollte nicht, dass er wegging. Vielleicht war es egoistisch, aber endlich passierte mal etwas Spannendes in Mullendorf. Ich wollte nicht, dass es so schnell wieder vorbei war. Außerdem mochte ich ihn. Ich war nicht verliebt, wie Viviane behauptete. Ich mochte ihn einfach nur. Vielleicht kam das durch sein Blut in meinen Adern. »Du bist hier sicher, ehrlich.«
Er verzog den Mund. »Ich bin nirgends sicher.«
»Hier wird dich wirklich niemand suchen. Nach Mullendorf verschlägt es mit Sicherheit kein AVEK-Team und erst recht
Weitere Kostenlose Bücher