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Die Ankunft

Die Ankunft

Titel: Die Ankunft Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Katja Piel
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gibt keine Trennung zwischen der Wölfin und mir. Wir sind miteinander verschmolzen. Wenn ich in Menschengestalt bin, habe ich trotzdem ihre feine Nase und ihr gutes Gehör – ein bisschen was davon, zumindest. Und wenn ich in Wolfsgestalt bin, kann ich immer noch denken wie ein Mensch. Zumindest eingeschränkt. Die Sinneseindrücke sind viel intensiver, und sie lösen auch Instinktreaktionen aus. Ich muss mich dann ziemlich beherrschen. Das ist mühsam, aber auch ziemlich wichtig, wenn man in der Nähe von Straßen herumläuft. Ein bisschen wie... aufpassen beim Sex, damit man nicht schwanger wird, oder zumindest stelle ich es mir so vor.“
    Er strich zärtlich über meine Haare.
    „Du hast nie beim Sex aufgepasst?“
    „Nein. Geborene Wandler können keine Kinder bekommen – oder zeugen. Das können nur gebissene. Wusstest du nicht?“
    „So genau habe ich mich bisher nicht damit beschäftigt.“ Er rückte sich hinter mir in der Wanne zurecht und umfasste mich fester.
    „Wie ist es, so lange zu leben?“
    Ich strich mir Schaum von den Schultern und seufzte.
    „Wie schon? Lang. Ich wünschte manchmal, wir müssten uns nicht verstecken. Es ist auf die Dauer unwürdig. Ich altere nicht. Zumindest nicht für das menschliche Auge sichtbar. Das heißt, ich muss alle zehn, fünfzehn Jahre verschwinden und irgendwo ein ganz neues Leben anfangen, bevor es jemandem auffällt.“
    „Das heißt, du hast schon um die vierzig Leben geführt?“
    „Nein. Ich habe mit über vierzig Leben herumprobiert. Ich bin ja nie bis zum Schluss geblieben.“
    „Was war da alles dabei?“
    Ich dachte nach.
    „In den Sechzigerjahren war ich ein Model, das hast du schon herausgefunden. Während des zweiten Weltkrieges war ich in Frankreich und habe für die Resistance gearbeitet. Ich war die Geliebte eines Sturmbandführers und habe die Franzosen mit Informationen versorgt. In der Weimarer Republik war ich Salonsängerin... davor Fotografin... die erste Frau übrigens, die sich mit dieser neuen Technik befasst hat. Davor... die Geliebte mehrerer einflussreicher Männer, manchmal auch die Ehefrau... Apothekengehilfin... Schankwirtin... Marketenderin... die ganz frühen habe ich vergessen. Während des dreißigjährigen Krieges habe ich in den Wäldern gelebt, kaum jemals in menschlicher Gestalt. Das waren schlimme Zeiten, im siebzehnten Jahrhundert. Es gab immer wieder Pestwellen, die ganze Dörfer entvölkerten... Ich war sehr verwildert, als die Zeiten wieder ruhiger wurden, und kam als Mensch kaum mehr zurecht. In dieser Zeit war ich die Waldfrau. Ein Jagdbaron hat mich aufgenommen und zivilisiert, wie er es nannte. Das war damals auch dringend nötig. Ich bin dem Mann heute noch dankbar.“
    „Das heißt, du kannst auch lange Zeit in Wolfsgestalt leben?“
    „Theoretisch ja. Praktisch birgt es die Gefahr, dass der Wandler zu tief in die Tiergestalt rutscht. Das Denken fällt schwerer, die Instinkte sind lebhaft, es ist ein einfaches Leben. Man weiß immer, was man zu tun hat: jagen, fressen, schlafen. Während meiner Ausbildung wurde uns eingeschärft, nie zu lange in Tiergestalt zu bleiben, um nicht den Kontakt zum Mensch zu verlieren. Obwohl ich das manchmal als Verlockung empfinde. Einfach so lange in Tiergestalt zu bleiben, bis ich vergessen habe, dass ich auch menschlich bin. Das muss ungeheuer erholsam sein.“
    „Was für ein trauriger Gedanke. Ein bisschen wie Selbstmord. Wenn ich mich selbst vergesse, dann gibt es mich ja nicht mehr wirklich, oder?“
    „Irgendwie schon.“
    „Tu's nicht. Ich würde dich so vermissen.“
    „Nein. Versprochen.“ Ich umfasste seine Arme und küsste seine nasse Haut. Er ließ den Kopf nach vorne sinken und atmete gegen meine Schulter.
    „Warum hast du dir vorher nie einen Eingeweihten gesucht?“, fragte er.
    „Keine Ahnung. Die, die ich traf, waren für mich nicht attraktiv. Und wer weiß, wie viele ich verpasst habe, von denen ich's nicht wusste... man bindet es sich ja auch nicht gegenseitig auf die Nase. Außerdem bleibt immer das Problem: Er altert, ich nicht.“
    „Und ein anderer Wandler? Ihr hättet gemeinsam alle zehn Jahre neu anfangen können.“
    „Herzlein, es gibt nicht gerade einen Heiratsmarkt für Gestaltwandler. Und wenn du von allen Wandlern die Werwölfe abziehst, und von den reinen Wandlern die Idioten, und die Schwulen, und die Frauen, dann ist die Wahrscheinlichkeit, dass ich den einen passenden treffe, extrem gering. Selbst wenn man so lange suchen kann

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