Die Anstalt
wurden, und die vierte die Prognose. Letztere umfasste nur drei Wörter: Geschlossene. Langzeitverwahrung wahrscheinlich.
Es gab auch ein Diagramm, dem zu entnehmen war, dass der Zurückgebliebene mehr als einmal für ein Wochenende bei seiner Familie beurlaubt worden war.
Francis las von einem Mann, der in einer Kleinstadt nicht weit von Boston aufgewachsen war und der erst ein Jahr vor seiner Einweisung wieder ins westliche Massachusetts zurückgezogen war. Er war Anfang dreißig und hatte eine Schwester und zwei Brüder, die bei Tests alle als normal abgeschnitten hatten und offenbar ein stinknormales Tretmühlendasein führten. Zum ersten Mal war er in der Grundschule als geistig zurückgeblieben diagnostiziert worden und hatte dann sein Leben lang an irgendwelchen Förderprogrammen teilgenommen. Doch kein Programm hatte ihm je etwas gebracht.
Francis wippte auf seinem Sitz zurück und brauchte nicht lange, um eine Situation vor Augen zu haben, die so tödlich einfach und ausweglos war wie ein Schubfach, aus dem man nicht mehr herauskam. Eltern, die nicht jünger wurden. Ein nie erwachsen gewordener Sohn, der mit jedem Jahr größer und kräftiger und unkontrollierbarer wurde. Ein Sohn, der nicht in der Lage war, seine Impulse oder seinen Zorn zu verstehen und zu zügeln. Dessen sexuelles Interesse erwachte. Der stark war. Geschwister, die sich aus dem Staub machen wollten, und zwar so schnell wie möglich und so weit weg wie möglich, wenn sie nur nicht helfen mussten.
In jedem Wort konnte er ein bisschen von sich selbst erkennen. Anders, aber dennoch dasselbe.
Francis las die Akte einmal durch, dann ein drittes Mal, während er sich die ganze Zeit bewusst war, dass Lucy sein Gesicht genau studierte und jede Reaktion registrierte, mit der er die Worte auf der aufgeschlagenen Seite absorbierte.
Nach einer Weile biss er sich auf die Lippe. Er fühlte, wie seine Hände ein wenig zitterten. Er merkte, wie sich alles um ihn drehte, als würden sich die Zeilen auf dem Papier mit seinen Gedanken verschwören und ihm Schwindel bereiten. Er fühlte eine drohende Gefahr auf sich zukommen, und er atmete scharf ein, schob seinen Stuhl energisch zurück und reichte die Akte wieder Lucy.
»Und, sind Ihnen irgendwelche Ideen gekommen, Francis?«, fragte sie.
»Nichts Besonderes«, sagte er.
»Nichts, was Ihnen ins Auge springt?«
Er schüttelte den Kopf. Doch sie sah, dass es gelogen war. Francis waren sehr wohl Ideen gekommen, daran hegte sie keinen Zweifel. Er wollte ihr nur nicht sagen, welche.
Ich versuchte, mich zu erinnern: Was machte mir am meisten Angst?
Das war einer der Momente, damals in Lucys Büro. Ich fing an, Dinge zu sehen. Keine Halluzinationen wie diejenigen, die mir in den Ohren dröhnten und durch den Kopf hallten. Die waren mir vertraut, und wenn ich sie auch lästig und schwierig fand und sie ein entscheidender Hinweis auf meine Geistesgestörtheit waren, so war ich doch an sie und ihre Forderungen und Ängste und all die Dinge gewöhnt, um die sie mich jederzeit bitten konnten. Immerhin hatten sie mich seit meiner Kindheit begleitet. Doch was mir in dem Moment Angst einjagte, waren die Dinge, die ich über den Engel sah. Wer er sein mochte. Wie er denken mochte. Für Peter und Lucy war es nicht dasselbe. Sie verstanden, dass der Engel ein Gegner war. Ein Krimineller. Eine Zielperson. Jemand, der sich vor ihnen versteckte und den sie aufzuspüren hatten. Sie hatten schon vorher Leute gejagt, sich an sie herangepirscht und sie vor Gericht gebracht, so dass ihre Bestrebungen in einem anderen Zusammenhang standen als das, was mich plötzlich bedrängte. In jenen Augenblicken sah ich den Engel zum ersten Mal als jemanden wie mich. Nur viel schlimmer. Er hatte Fußspuren hinterlassen, und zum ersten Mal glaubte ich, dass ich fähig wäre, sie zurückzuverfolgen. Meine eigenen Füße auf den von ihm ausgetretenen Pfad zu setzen, war etwas, gegen das sich alles in mir sträubte. Es war falsch. Aber möglich.
Ich wollte fliehen. Ein ganzer Chor in mir sang laut, dass hier nichts Gutes im Gange war. Meine Stimmen waren ein Chor, der mich zur Selbsterhaltung mahnte, mir dringend riet, hier rauszukommen, abzuhauen, mich zu verstecken und in Sicherheit zu bringen.
Aber wie? Die Anstalt war abgeschlossen. Die Mauern waren hoch. Die Tore stark. Und meine eigene Krankheit hinderte mich an der Flucht.
Wie konnte ich den einzigen beiden Menschen den Rücken kehren, die mir jemals gezeigt hatten, dass ich
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