Die Anstalt
Eigenschaft zeichnete sie aus. Doch in der Heilanstalt kam sie ins Trudeln. Es war einfach nicht dasselbe wie die kriminelle Welt, die sie gewohnt war.
Lucy stöhnte frustriert. Zum hundertsten Mal starrte sie auf die Patientenakte und wollte sie schon zuschlagen, als es zögerlich an der Tür klopfte. Sie sah hoch, und die Tür ging auf.
Francis streckte den Kopf herein.
»Hallo, Lucy«, sagte er. »Darf ich Sie einen Moment stören?«
»C-Bird, kommen Sie rein«, sagte sie. »Ich dachte, Sie wären beim Essen.«
»War ich auch, das heißt, bin ich noch. Aber auf dem Weg zum Speisesaal ist mir was eingefallen, und Peter meinte, ich sollte sofort zu Ihnen zurückgehen und es Ihnen sagen.«
»Und worum geht es?«, fragte Lucy und lud den jungen Mann mit einer Geste ein, hereinzukommen und Platz zu nehmen. Das tat Francis auf eine linkische, umständliche Art und Weise, die verriet, dass er einerseits begierig war, etwas loszuwerden, und zugleich davor zurückschreckte.
»Der retardierte Mann«, sagte Francis langsam, »der sah ganz und gar nicht nach der Person aus, die wir suchen. Ich meine, ein paar von den anderen Kerlen, die hier drinnen waren und die wir von der Liste gestrichen haben, schienen, zumindest rein äußerlich, viel geeignetere Kandidaten zu sein. Zumindest Kandidaten, wie wir sie uns vorstellen.«
Lucy nickte. »Das hab ich auch gedacht. Aber dieser Bursche – wie kommt er an das T-Shirt?«
Francis überfiel ein leichter Schauder, bevor er antwortete. »Weil jemand wollte, dass wir es finden. Und jemand wollte, dass wir diesen Mann finden. Jemand wusste, dass wir diese Befragungen und Durchsuchungen veranstalten, und er hat zwischen diesen beiden Vorgehensweisen eine Verbindung hergestellt. Also hat er vorausgesehen, was wir tun würden, und das Hemd als Köder ausgelegt.«
Lucy zog scharf die Luft ein. Das ergab durchaus Sinn. »Aber wieso sollte jemand uns auf die Spur dieses Mannes führen?«
»Das kann ich noch nicht sagen«, erwiderte Francis. »Dazu fällt mir im Moment nichts ein.«
»Ich meine«, fuhr Lucy fort, »wenn man jemandem ein Verbrechen unterschieben will, das man selber begangen hat, wäre es doch viel logischer, es einem unterzuschieben, dessen ganze Verhaltensweise den Verdacht rechtfertigt. Wie könnte das Benehmen dieses Mannes aber unser Interesse wecken?«
»Das ist mir klar«, sagte Francis, »aber dieser Mann ist anders. Er kommt, denke ich, am allerwenigsten für das Verbrechen infrage. Bei dem redet man gegen eine Wand. Es muss demnach einen anderen Grund geben, wieso die Wahl auf ihn fiel.«
Er sprang plötzlich auf und wirkte höchst beunruhigt, als hätte es in seiner unmittelbaren Nähe einen lauten Knall gegeben. »Lucy«, sagte er bedächtig, »es gibt etwas an dem Mann, das uns etwas sagen soll. Wir müssen nur erkennen, was es ist.«
Lucy schnappte sich die Akte des Patienten und hielt sie in die Höhe. »Meinen Sie, es gibt etwas hier drin, was uns weiterhelfen könnte?«, fragte sie.
Francis nickte. »Möglich. Durchaus möglich. Ich weiß nicht, was in so einem Krankenblatt steht.«
Sie schob es ihm hin. »Versuchen Sie, da was zu entdecken, denn ich weiß nicht mehr weiter.«
Francis griff sich die Mappe. Er hatte noch nie eine Krankenakte in Händen gehabt, und einen Moment lang hatte er das Gefühl, etwas Verbotenes zu tun, indem er in das Leben eines anderen Patienten Einblick nahm. Das, was sämtliche Patienten voneinander wussten, war so sehr von der Anstalt und von der Alltagsroutine beherrscht, dass man gar nicht sehr lange eingesperrt sein musste, um zu vergessen, dass die anderen Patienten ebenfalls einmal ein Leben außerhalb dieser Mauern gehabt hatten. Die Anstalt nahm ihnen all das, was sonst noch zu ihnen gehörte – ihre Vergangenheit, ihre Familie, ihre Zukunft. Francis wurde bewusst, dass es irgendwo eine Akte über ihn und eine über Peter gab und dass sie alle möglichen Informationen enthielten, die in diesem Moment schrecklich weit weg schienen, als wäre dies alles in einer anderen Existenz geschehen, in einer anderen Zeit – und einem anderen Francis.
Er brütete über der Akte des retardierten Mannes.
Sie war in knappem, farblosem Klinikjargon geschrieben und in vier Sparten aufgeteilt. Die erste beschrieb das familiäre und soziale Umfeld, die zweite klinische Fakten wie Größe, Gewicht, Blutdruck und dergleichen, die dritte den Behandlungsplan, mit der Auflistung verschiedener Medikamente, die ihm verschrieben
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