Die Anstalt
draußen stand oder auch wegrannte, dass sie allein war oder auch nicht.
Die Stille zerrte genauso an ihren Nerven wie vorher die Geräusche.
Sie wartete.
Sie ließ Sekunden verstreichen.
Eine Minute. Vielleicht zwei.
Durchs geöffnete Fenster in ihrem Rücken hörte sie plötzlich unten Stimmen vorbeikommen. Jemand lachte, jemand anders stimmte ein.
Sie drehte sich wieder zur Tür um, packte den Riegel und riss mit einer heftigen Bewegung die Tür auf.
Der Flur war leer.
Sie trat hinaus und sah nach rechts und links.
Sie war allein.
Lucy holte noch einmal tief Luft und wartete, bis sich ihr heftig klopfendes Herz beruhigt hatte. Sie schüttelte den Kopf.
Du warst die ganze Zeit allein
, sagte sie sich.
Du lässt das alles zu nah an dich heran
.
Die Klinik war ein Ort unbekannter Extreme, und ständig von so viel Geisteskrankheit und seltsamem Benehmen umgeben zu sein machte sie schreckhaft. Falls sie etwas zu befürchten hatte, dann weit weniger, als derjenige, der das eben vielleicht gewesen war, von ihr zu befürchten hatte. Diese tollkühne Drohgebärde beruhigte sie.
Sie kehrte in das Zimmer zurück, das einmal Short Blond bewohnt hatte, verriegelte die Tür von innen und lehnte den Holzstuhl gegen die Tür. Nicht so sehr als zusätzliche Barriere, denn das hätte wohl kaum etwas gebracht. Doch in dieser Stellung würde er, falls die Tür aufging, umfallen. Sie nahm den Abfalleimer und stellte ihn obendrauf und krönte den improvisierten Turm mit ihrem Koffer. Sie ging davon aus, dass sie rechtzeitig geweckt würde, wenn dieses Frühwarnsystem losging, egal, wie tief sie schlief.
23
»Warst du das?«
»Das war niemals ich. Das war ich schon immer.«
»Du bist ein ziemliches Risiko eingegangen«, argumentierte ich steif. »Du hättest auf Nummer sicher gehen können, bist du aber nicht, was ein Fehler war. Ich hab es nicht gleich erkannt, aber irgendwann war es mir klar.«
»Du hast einiges nicht erkannt, C-Bird.«
»Du bist nicht hier«, sagte ich langsam in einem Ton, der nicht sehr überzeugend klang. »Du bist nur eine Erinnerung.«
»Ich bin nicht nur hier«, zischte der Engel, »sondern ich bin diesmal wegen dir gekommen.«
Ich wirbelte herum, als könnte ich die Stimme stellen, die mich bedrängte. Doch er war wie ein Schatten, der von einer dunklen Zimmerecke in die andere huschte, fast zum Greifen nah. Ich packte nach ihm und erwischte einen Aschenbecher, der von Kippen und zerdrückten Zigarettenfiltern überquoll, und warf ihn, so fest ich konnte, nach der Gestalt. Sein Gelächter vermischte sich mit dem Klirren splitternden Glases, als der Aschenbecher an der Wand zerbarst. Ich drehte mich nach rechts, dann nach links, um ihn auf Trab zu bringen, doch der Engel war zu schnell für mich. Ich brüllte ihn an, er solle stehen bleiben. Ich hätte keine Angst vor ihm, er solle gefälligst mit fairen Mitteln kämpfen, was alles in allem an ein weinendes Kind erinnerte, das auf dem Spielplatz einen Rüpel zur Rede stellt. Es wurde mit jedem Moment schlimmer, mit jeder Sekunde fühlte ich mich kleiner und hilfloser. Wütend hob ich den Holzschemel auf und warf ihn mit Schwung durchs Zimmer. Er krachte gegen den Türrahmen, schlug einen Splitter lackiertes Holz heraus und fiel mit einem dumpfen Aufprall zu Boden.
Mit jeder Sekunde, die verging, war ich der Verzweiflung näher. Ich öffnete die Augen und suchte im Zimmer nach Peter, der vielleicht helfen konnte, doch er war nicht da. In der Hoffnung, dass mir jemand von damals beistehen und an meiner Seite kämpfen würde, versuchte ich, mir Lucy ins Gedächtnis zu rufen, und Big Black und Little Black oder sonst jemanden aus der Anstalt.
Ich war allein, und meine Einsamkeit war wie ein Schlag in die Magengrube.
Einen Moment lang kam ich mir ganz verloren vor, doch dann auf einmal hörte ich wie durch den Nebelschleier des früheren und des künftigen Wahns hindurch ein Geräusch, das mir deplatziert erschien. Ein beharrliches Hämmern, das, nun ja, irgendwie nicht passend war. Nicht völlig unpassend, aber anders. Ich brauchte ein Weilchen, um mich zu orientieren und zu begreifen, was es war. Jemand stand vor meiner Wohnungstür.
Der Engel blies mir noch einmal seinen eiskalten Atem in den Nacken.
Das Klopfen ging weiter. Es wurde heftiger, wie wenn man die Lautstärke aufdreht.
Behutsam näherte ich mich dem Lärm.
»Wer ist da?«, fragte ich. Ich war mir nicht mehr sicher, ob der Krach aus der Welt dort draußen realer war als die
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