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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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rappelte er sich hoch und folgte gehorsam den Moses-Brüdern, die den Stämmigen auf die Tragbahre verfrachtet hatten und ihn zur Tür hinausschafften.
    Evans drehte sich zu Francis um. »Sie haben eine Prellung an der Wange«, sagte er. »Eine Schwester soll sich das mal ansehen.«
    Dann verließ auch er zügig den Tagesraum, ohne Lucy eines Blickes zu würdigen, die an der Tür Stellung bezogen hatte und den Moment nutzte, um Francis einen fragenden Blick zuzuwerfen.
     
    Einige Stunden später saß Lucy allein im Dunkeln in ihrem kleinen Zimmer im Schwesternwohnheim und versuchte, Fortschritte bei ihren Ermittlungen auszumachen. Sie konnte nicht einschlafen und hatte sich im Bett aufgesetzt und an die Wand gelehnt. Sie versuchte, in ihrer Umgebung vertraute Formen zu erkennen. Ihre Augen gewöhnten sich rasch an die Dunkelheit, und sie konnte bald die Umrisse ihres Schreibtischs sehen, des kleinen Tischchens, der Kommode, des Nachtschränkchens und der Lampe. Sie konzentrierte sich weiter und erkannte ihre Kleider, die sie achtlos auf den harten Holzstuhl geworfen hatte, als sie ins Zimmer gekommen war und sich ausgezogen hatte.
    Es war, dachte sie, ein Symbol für das, was sie durchlebte. Es gab vertraute Dinge, die dennoch im Dunkel der Anstaltswelt verhüllt, verzerrt oder verschlossen blieben. Sie musste Mittel und Wege finden, Indizien, Verdächtige und Theorien zu erhellen, doch sie sah nicht recht, wie.
    Sie lehnte den Kopf zurück und konnte das Gefühl nicht loswerden, dass sie zu diesem gehörigen Durcheinander einiges beigetragen hatte. Gleichzeitig aber glaubte sie, auch wenn sie immer noch nichts Konkretes in der Hand hatte, mehr denn je daran, dass sie dem, was sie hergeführt hatte, gefährlich nahe gekommen war.
    Sie versuchte, sich den Mann, den sie jagte, vorzustellen, merkte aber bald, dass er genau wie die Gegenstände in ihrem Raum konturlos und vage blieb. Die Welt der Heilanstalt ließ eben keine einfachen Schlussfolgerungen zu. Sie rief sich Dutzende Augenblicke ins Gedächtnis, in denen sie einem Tatverdächtigen gegenübergesessen hatte, sei es im Verhörzimmer einer Polizeistation oder später vor Gericht: Ihr entging kein Detail: die Runzeln an den Händen des Mannes, der verstohlene Ausdruck in seinen Augen, seine Kopfhaltung, all die Dinge, die sich zum Porträt eines Menschen zusammenfügten, der sich klar und deutlich in ein Schema von Schuld und Verbrechen einordnen ließ. Wenn sie Lucy gegenübersaßen, schien es immer so
offensichtlich
. Den Männern, die sie nach ihrer Verhaftung oder auf der Anklagebank vor sich gehabt hatte, waren ihre Taten wie billige Klamotten schon von weitem anzusehen. Irrtum ausgeschlossen.
    Während sie weiter ins nächtliche Dunkel starrte, sagte sie sich, dass sie kreativer denken musste, um Ecken, subtiler. In ihrer bisherigen Berufserfahrung hatte es, kaum dass sie die Beute vor Augen hatte, praktisch keine Zweifel mehr gegeben. Diese Welt hier was das genaue Gegenteil. Es gab nichts als Zweifel. Und vielleicht, dachte sie mit einem Schauder, der nicht vom geöffneten Fenster rührte, hatte sie dem Mann, den sie jagte, sogar schon gegenübergesessen. Doch hier genoss er den Heimvorteil.
    Sie hob die Hand ans Gesicht und berührte ihre Narbe. Ihr Angreifer war der Inbegriff von Anonymität gewesen. Das Gesicht hatte unter einer Skimütze gesteckt, so dass sie nur seine dunklen Augen sehen konnte. Er trug dunkle Lederhandschuhe, Jeans und einen Allerweltsparka, wie man sie in jedem Laden für Freizeitkleidung kaufen konnte. Dazu Nike-Laufschuhe. Die wenigen Worte hatte er mit kehliger und rauer Stimme gesprochen, um einen Akzent zu verbergen. Und er brauchte nichts zu sagen, erinnerte sie sich. Er ließ das glänzende Jagdmesser, mit dem er ihr das Gesicht aufschlitzte, sprechen.
    Darüber hatte sie immer wieder nachgegrübelt. In ihrer späteren Verarbeitung des Geschehenen war sie immer wieder bei diesem Umstand hängen geblieben, denn sie hatte dabei ein seltsames Gefühl gehabt, als ob der Überfall weniger auf die Vergewaltigung gezielt hätte als auf die Verunstaltung ihres Gesichts.
    Lucy lehnte sich zurück und ließ ein-, zweimal den Kopf von der Wand abprallen, als könnten diese leichten Stöße gegen den Hinterkopf ihr Denkvermögen fördern, eine Idee lockern, die irgendwo in ihrem Unterbewusstsein feststeckte. Manchmal fragte sie sich, wieso sich, seit sie in jenem Treppenhaus des Wohnheims überfallen worden war, ihr ganzes Leben

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