Die Anstalt
lange ich den Moment auskosten will. Vielleicht ist das heute auch nicht die richtige Nacht. Vielleicht passt mir morgen besser ins Programm. Oder nächste Woche. Oder nächstes Jahr. Wann auch immer ich es will, Francis. Du bist jede Nacht hier in diesem Bett, in dieser Anstalt, und du wirst niemals wissen, wann ich vielleicht wiederkomme, nicht wahr? Oder vielleicht sollte ich es doch jetzt erledigen und mir das bisschen Mühe ersparen …«
Die flache Seite der Klinge drehte sich, und eine Sekunde lang berührte die Schneide seine Haut, dann wieder die flache Seite.
»Dein Leben gehört mir«, fuhr der Engel fort, »um es dir zu nehmen, wann immer es mir gefällt.«
»Was wollen Sie?«, fragte Francis. Er merkte, wie ihm hinter den zugekniffenen Lidern die Tränen in die Augen stiegen und seine Panik hervorbrach, so dass seine Hände zitterten und die Beine vor Entsetzen zuckten.
»Was ich will?« Der Mann lachte, ein zischendes Geräusch. »Für heute Nacht habe ich, was ich will, und ich bin ein gutes Stück näher daran, alles zu bekommen, was ich will. Viel näher.«
Francis fühlte, wie der Engel sein Gesicht zu seinem herunterneigte, so dass ihrer beider Lippen wie bei Liebenden nur noch wenige Zentimeter voneinander entfernt waren.
»Ich bin alldem näher gekommen, was mir wichtig ist. So nahe, dass ich dir immer auf den Fersen bin. Ich bin wie ein Duft, der dir anhaftet, den nur ein Hund riechen kann. Ich bin wie die Antwort auf ein Rätsel, das für Leute deines Schlags einfach ein bisschen zu kompliziert ist.«
»Was soll ich denn machen?«, fragte Francis fast in flehentlichem Ton, als wünschte er sich irgendeine Aufgabe oder Tätigkeit, die ihn von der Gegenwart des Engels erlöste.
»Gar nichts, Francis, außer, dich an unsere kleine Unterhaltung zu erinnern, wenn du deinen täglichen Geschäften nachgehst«, erwiderte der Engel.
Es herrschte ein Moment Stille, dann fuhr er fort: »Du kannst bis zehn zählen und dann die Augen aufmachen, Francis. Denk an das, was ich dir gesagt habe. Ach, und übrigens« – der Engel schien beinahe ausgelassen zu sein – »hab ich ein kleines Geschenk für deinen Freund Fireman und diese verdammte Staatsanwältin dagelassen.«
»Was?«
Der Engel beugte sich noch tiefer herab, so dass Francis tatsächlich seinen Atem an der Haut fühlte. »Ich lasse gerne eine Botschaft zurück. Manchmal steckt sie in dem, was ich mir nehme. Aber diesmal steckt sie in dem, was ich dalasse.«
Damit verschwand der Druck auf seiner Wange ganz plötzlich, und er spürte, wie sich der Mann von seinem Bett erhob. Francis hielt weiter den Atem an und begann zu zählen. Langsam, von eins bis zehn, bevor er die Augen öffnete.
Seine Augen brauchten noch ein paar Sekunden, um sich an die Dunkelheit zu gewöhnen, doch dann hob er den Kopf und wandte sich zur Schlafsaaltür um.
Eine Sekunde lang war der Engel umrisshaft, leuchtend, geradezu strahlend zu sehen. Er hatte sich umgedreht und sah Francis an, doch Francis war unfähig, irgendwelche Gesichtszüge zu erkennen, außer einem Augenpaar, das sich in ihn hineinzubrennen schien, und eine glitzernd weiße Aura, die ihn wie ein Licht aus einer anderen Welt einhüllte. Dann verschwand die Vision, die Tür schlug dumpf zu, es folgte das unverkennbare Geräusch des Schlüssels im Schloss, das, wie es Francis schien, alle Hoffnungen und Möglichkeiten auszuschließen schien.
Er zitterte, sein ganzer Körper bebte unkontrollierbar, als wäre er nach dem Eintauchen in eisiges Wasser unterkühlt. Er blieb im Bett, stürzte durch eine Finsternis blanker Panik, die sich in ihm festgesetzt hatte und die sich ungezügelt in seinem ganzen Körper ausbreitete, so dass er sich fragte, ob er sich bewegen könnte, wenn die Morgendämmerung den Raum erfüllte. Seine eigenen Stimmen blieben stumm, als fürchteten sie, dass Francis plötzlich am Rand einer abgründigen Angst taumelte und, falls er den Halt verlor und stürzte, nie mehr wieder herausklettern könnte.
Die ganze Nacht hindurch lag Francis da, ohne zu schlafen oder sich zu rühren.
Sein Atem kam in kurzen, flachen Stößen. Er fühlte, wie seine Finger zuckten.
Er tat nichts weiter, als auf die Geräusche um sich herum zu lauschen und auf das Pochen in seiner Brust. Als es dämmerte, war er sich plötzlich nicht sicher, ob er seine Glieder zwingen konnte, sich zu rühren, war sich nicht einmal sicher, ob er seine Augen dazu bringen konnte, nicht länger an die Schlafsaaldecke zu
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