Die Anstalt
nicht sicher sind.« Francis atmete heftig aus, weil die Vorstellung, dass der Tänzer nur sterben musste, um ihnen etwas klar zu machen, ihn ziemlich verstörte. Er konnte sich nicht vorstellen, was den Engel zu einem solch dramatischen Verhalten trieb, und im selben Moment erkannte er, dass er es vielleicht doch nachvollziehen konnte. Das machte ihm noch mehr Angst, aber er nahm in dem strahlend hellen Mittagslicht im Hausflur Zuflucht und bei Peter und Lucy. In Francis’ Augen waren sie kompetent und stark, und der Engel war vor ihnen auf der Hut, weil sie nicht verrückt und schwach waren wie er. Er atmete langsam aus und fuhr fort: »Doch das sind Risiken, die er eingeht. Meint ihr, er hatte noch einen anderen Grund, um letzte Nacht in diesen Schlafsaal zu kommen?«
»Was sollte das für einer sein?«
Francis fing fast zu stottern an. Jeder Gedanke schien in seinem Innern wie in weiter Ferne nachzuhallen, als stünde er am Rand eines tiefen Lochs, das nur Bewusstlosigkeit verhieß. Für einen Moment machte er die Augen zu und sah einen roten Lichtstreifen hinter den Lidern, der ihn fast blendete. Er ließ sich mit jedem Wort Zeit, weil er in dieser Sekunde sah, was der Engel brauchte.
»Der retardierte Mann …«, fing Francis an. »Der hatte etwas, das ihm gehörte …«
»Das blutige T-Shirt.«
»Also, ich frage mich …«
Francis hatte keine Gelegenheit, den Satz zu Ende zu bringen. Er sah zu Peter auf, der sich zu Lucy Jones umsah. Sie mussten ihre Zustimmung nicht aussprechen. Binnen Sekunden hatten die drei den Flur durchquert und den Schlafsaal betreten.
Es war ihr Glück, dass der große Retardierte auf der Bettkante saß und seiner Raggedy-Andy-Puppe etwas vorsummte. Im hinteren Teil des Raums hielten sich noch ein paar andere Patienten auf, von denen die meisten herumlagen und selbstvergessen aus dem Fenster oder an die Decke starrten. Der Retardierte sah zu den dreien auf und lächelte. Lucy übernahm zielstrebig die Führung.
»Hallo«, sagte sie. »Erinnern Sie sich an mich?«
Er nickte.
»Ist das Ihre Freundin?«, fragte sie.
Wieder nickte er.
»Und hier schlafen Sie beide?«
Er klopfte auf die Matratze, und sie setzte sich neben ihn. Trotz ihrer stattlichen Größe wirkte sie neben dem großen Retardierten, der für sie zur Seite rückte, wie ein Zwerg.
»Hier wohnen Sie beide also …«
Wieder grinste und lächelte er. Er schien sich einen Moment lang stark zu konzentrieren, dann sagte er stockend: »Ich wohne im großen Krankenhaus.«
Die Worte polterten wie Felsbrocken aus seinem Mund. Jedes war ein grober Klotz und steinhart, und sie ahnte, dass jedes eine gigantische Leistung war.
»Und hier heben Sie Ihre Sachen auf?«, fragte sie.
Wieder nickte er.
»Hat irgendjemand versucht, Ihnen wehzutun?«, fragte sie.
»Ja«, sagte der Retardierte langsam, wie um die eine Silbe so zu dehnen, dass sie mehr als eine einfache Bestätigung enthielt. »Hab Haue bekommen.«
Lucy holte tief Luft, doch bevor sie eine weitere Frage stellen konnte, sah sie, dass sich die Augen des großen Retardierten mit Tränen gefüllt hatten.
»Ich hab Haue bekommen«, wiederholte er und fügte hinzu: »Ich mag Haue nicht. Meine Mami hat gesagt, nicht hauen. Niemals.«
»Ihre Mami ist sehr klug«, sagte Lucy. Sie hegte keinen Zweifel, dass der Zurückgebliebene ernsten Schaden anrichten konnte, wenn es mit ihm durchginge.
»Ich bin zu groß«, sagte er. »Nicht hauen.«
»Hat Ihre Freundin auch einen Namen?«, fragte sie und wies auf die Puppe.
»Andy.«
»Ich heiße Lucy. Kann ich auch Ihre Freundin sein?«
Er nickte und lächelte.
»Wollen Sie mir bei etwas helfen?«
Er legte die Stirn in Falten, und sie nahm an, dass er sie nicht recht verstand, deshalb sagte sie: »Ich habe etwas verloren.«
Er grunzte zur Antwort, als wollte er ihr sagen, dass er auch einmal etwas verloren hatte und dass ihm das gar nicht gefiel.
»Wollen Sie für mich in Ihren Sachen nachschauen?«
Der große Retardierte zögerte und zuckte dann die Schultern. Er griff unter das Bett und zog mit einer Hand einen grünen Militär-Schrankkoffer hervor. »Was?«, fragte er.
»Ein T-Shirt.«
Er reichte Lucy behutsam die Raggedy-Andy-Puppe und öffnete den Verschluss der Feldkiste. Sie stellte fest, dass die Kiste nicht abgeschlossen war. Er hob den Deckel hoch und betrachtete seine dürftigen Habseligkeiten. Obenauf lagen ordentlich gefaltet Wäsche und Socken neben einem Foto des Retardierten mit seiner Mutter. Das
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