Die Anstalt
entsprechenden Melodien und Takten und Rhythmen lauschte, die mit Sicherheit von weiteren Todesfällen kündete.
Für Lucy war es, wenn man es richtig bedachte, der einfachste, geradlinigste Plan, den sie sich ausdenken konnten, und vermutlich der Einzige, der überhaupt Erfolg versprach. Sie würde die Spätschicht der Nachtschwester übernehmen, die sich für Short Blond als tödlich erwiesen hatte. Sobald sie ihre Stellung in der Pflegestation bezogen hatte, würde sie auf das Erscheinen des Engels warten.
Sie war die angebundene Ziege. Der Engel war der menschenfressende Tiger. Einer der ältesten Kunstgriffe. Sie würde die Gegensprechanlage zum zweiten Stock, ein Geschoss über ihr, eingeschaltet lassen, wo die Moses-Brüder auf ihr Zeichen warteten. In der Klinik waren Hilferufe so häufig, dass sie ignoriert wurden, und deshalb hatten sie sich darauf verständigt, dass die beiden ihr zu Hilfe eilen würden, wenn sie
Apollo
sagte. Lucy hatte das Wort mit einem gewissen Sinn für Ironie gewählt. Sie hätten ebenso gut Astronauten auf dem Weg zu einem fernen Mond sein können. Die Moses-Brüder glaubten, dass sie nicht mehr als ein paar Sekunden benötigen würden, um die Treppe herunterzulaufen, womit sie außerdem noch dem Täter einen der Fluchtwege abschnitten. Lucy brauchte nichts weiter zu tun, als den Engel ein Weilchen zu beschäftigen – und dabei nicht zu sterben. Der Haupteingang zum Amherst war doppelt verriegelt, und dasselbe galt für die Seitentür. Sie alle vermuteten, dass sie den Killer in die Enge treiben konnten, bevor er Lucy in Stücke schneiden oder sich durch die verschiedenen Schlüssel durcharbeiten und aufs Klinikgelände hinaus verschwinden konnte. Doch selbst wenn er floh, hätten sie bis dahin den Wachdienst benachrichtigt, und damit würden die Chancen für den Engel schnell sinken. Und, was noch wichtiger war, sie wüden sein Gesicht zu sehen bekommen.
Peter hatte besonders auf diesem Punkt bestanden und auf einem zweiten Detail. Es war von entscheidender Bedeutung, hatte er argumentiert, dass sie die Identität des Engels erfuhren, egal, was passierte. Das sei die einzige Möglichkeit, die Verfahren gegen ihn zu untermauern.
Außerdem hatte er verlangt, dass die Tür zum Männer-Schlafsaal im ersten Stock nicht abgeschlossen würde, so dass er die Situation mit überwachen konnte, selbst wenn es eine schlaflose Nacht bedeutete. Er begründete diesen Wunsch damit, dass er ein bisschen näher bei Lucy wäre und dass der Engel einen Angriff aus einer normalerweise abgeschlossenen Tür am wenigsten vermuten würde. Die Moses-Brüder hatten gesagt, das sei zwar richtig, sie könnten die Tür aber nicht selbst offen lassen. »Gegen die Regeln«, hatte Little Black gesagt. »Der Big Doc würde uns sofort feuern, wenn er davon Wind bekäme …«
»Also …«, fing Peter an, doch Little Black ließ ihn nicht ausreden, sondern hob die Hand.
»Natürlich wird Lucy ihren eigenen Schlüsselsatz für sämtliche Türen hier bei sich haben. Was sie damit macht, während sie die Pflegestation übernimmt, ist nicht unser Bier …«, sagte Little Black. »Aber dann sind es nicht mein Bruder und ich gewesen, die die Tür offen lassen. Finden wir den Kerl, ist alles gut. Aber ich bin nicht auf noch mehr Ärger versessen, als wir sowieso schon kriegen.«
Lucy starrte auf ihr Bett. Es war still im Schwesternwohnheim, und sie hatte das Gefühl, als wäre sie allein im Gebäude, obwohl sie wusste, dass das nicht stimmen konnte. Irgendwo unterhielten sich Leute, lachten vielleicht sogar über einen Witz oder tauschten Geschichten aus. Sie nicht. Sie hatte eine weiße Schwesterntracht vor sich ausgebreitet, ihre Verkleidung für die Nacht. Innerlich musste sie doch ein bisschen spöttisch lachen. Erstkommunionskleid. Abschlussballrobe. Hochzeitskleid. Beerdigungskluft. Zu besonderen Anlässen legte eine Frau ihre Kleider so sorgsam zurecht.
In der Hand hielt sie die kleine, kurzläufige Pistole, die sie in die Handtasche steckte. Sie hatte keinem der anderen gesagt, dass sie die Waffe bei sich hatte.
Im Grunde rechnete Lucy nicht damit, dass der Engel sich wirklich zeigte, doch ihr fiel nichts anderes ein, was sie in der kurzen Zeit, die ihr verblieb, hätte unternehmen können. Ihr Aufenthalt hier ging zu Ende, willkommen war sie schon lange nicht mehr, und Montagmorgen würden sie auch Peter wegbringen. Blieb noch diese eine Nacht. In mancherlei Hinsicht hatte sie schon darüber hinaus
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