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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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geplant und überlegt, zu welchen Konsequenzen sie sich gezwungen sehen würde, falls sie hier scheiterte und die Klinik ergebnislos verlassen musste. Irgendwann, das stand für sie fest, würde der Engel wieder entweder hier in der Klinik töten oder sich beurlauben lassen und sich sein Opfer außerhalb dieser Gebäude suchen. Falls sie jede Entlassungsverhandlung und jeden Todesfall in der Klinik verfolgte, würde er früher oder später einen Fehler begehen, und sie stünde bereit, ihm den Prozess zu machen. Natürlich war der Haken bei dieser Vorgehensweise nur allzu offensichtlich: Es bedeutete, dass noch jemand sterben musste.
    Sie holte tief Luft und griff nach der Schwesterntracht. Sie versuchte, sich nicht vorzustellen, wie wohl dieses nächste namenlose, gesichtslose Opfer aussehen würde. Oder was für ein Mensch sie war. Oder was für Hoffnungen und Wünsche sie wohl hatte. Irgendwo in einer Parallelwelt gab es sie schon, nahe und dennoch gespenstisch weit weg. Eine Sekunde lang fragte sich Lucy, ob diese Frau da draußen, die nur darauf wartete, zu sterben, etwas von den Wahnvorstellungen ahnte, unter denen so viele der Anstaltspatienten litten. Sie existierte nur irgendwo da draußen und hatte keine Ahnung, dass sie für den Engel als Nächstes dran war, falls er nicht diese Nacht an der Pflegestation im ersten Stock des Amherst erschien.
    Das ganze Gewicht dieses unbekannten Frauenschicksals auf ihren Schultern, zog Lucy sich langsam an.
    Als ich von den Worten aufsah, um Luft zu bekommen, stand Peter, die Arme vor der Brust verschränkt, lässig, doch mit besorgtem Gesicht, an die Wand gelehnt im Zimmer. Das war allerdings so ziemlich alles, was vertraut an ihm schien; seine Kleider waren zerfetzt, die Haut an seinen Armen war rot und schwarz versengt. Gesicht und Hals waren schmutz-und blutverschmiert. Es war nur noch so wenig an ihm, das mir vertraut vorkam, dass ich nicht sicher war, ob ich ihn wiedererkannt hätte. Der Raum füllte sich mit einem faulen Gestank, und plötzlich roch ich verbranntes Fleisch und Verwesung.
    Ich schüttelte die Panik ab und begrüßte meinen einzigen Freund.
    »Peter«, sagte ich in einem Ton, dem die Erleichterung anzuhören war, »du kommst mir zu Hilfe.«
    Er schüttelte den Kopf, sagte aber nichts. Er zeigte nur einmal auf seinen Hals und seine Lippen, um mir mit dieser stummen Geste klar zu machen, dass er nicht mehr sprechen konnte.
    Ich wies umgekehrt auf die Wand, die meine Geschichte bewahrte.
    »Mir dämmerte allmählich alles«, sagte ich. »Ich war bei diesen Entlassungsverhandlungen. Ich wusste es. Nicht alles, aber nach und nach begriff ich, wie es funktionierte. Als ich an dem Abend über das Klinikgelände lief, sah ich die Dinge zum ersten Mal mit anderen Augen, stimmt’s? Aber wo warst du? Wo war Lucy? Ihr habt eure Pläne geschmiedet, und keiner wollte auf mich hören, dabei hab ich am meisten gesehen.«
    Er lächelte wieder, um meine Feststellung zu bestätigen.
    »Wieso warst du nicht da und hast mir zugehört?«, fragte ich wieder.
    Peter zuckte traurig die Schultern. Dann streckte er eine Hand aus, an der fast alles Fleisch fehlte, und griff mit den knochigen Fingern nach meiner Hand. In der Sekunde, die ich zögerte, verblasste seine Hand, als hätte sich eine Nebelbank zwischen uns gelegt, und als ich wieder klar sah, war Peter verschwunden. Wortlos. Wie durch einen Zaubertrick. Ich schüttelte den Kopf und versuchte, meine Gedanken zu ordnen, und als ich wieder aufsah, stand genau an der Stelle, an der Peter eben verschwunden war, der Engel. Zunächst verschwommen, nahm er langsam Gestalt an.
    Er glühte weiß, als gäbe es eine grelle, unablässige Lichtquelle in ihm. Es blendete mich, und ich hielt mir die Hand über die Augen, doch als ich wieder hinsah, war er immer noch da. Nur geisterhaft, nebulös, wie lichtdurchlässig, als bestünde er teils aus Wasser, teils aus Luft, teils aus meiner Phantasie. Seine Züge waren konturlos, an den Rändern diffus. Das einzig Scharfe und Deutliche an ihm waren seine Worte.
    »Hallo, C-Bird«, sagte er. »Es ist niemand da, der dir helfen kann. Es gibt keinen mehr, der dir helfen könnte. Jetzt geht es nur noch um dich und mich und das, was in jener Nacht passiert ist.«
    Ich sah ihn an und begriff, dass er Recht hatte.
    »Du möchtest dich nicht an diese Nacht erinnern, Francis, stimmt’s?«
    Ich schüttelte den Kopf, weil ich meiner eigenen Stimme nicht traute.
    Er zeigte quer durchs Zimmer auf

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