Die Anstalt
hatte er selbst am wenigsten riskiert. Tatsächlich musste er angestrengt nachdenken, um zu erkennen, wo er bisher überhaupt etwas riskiert hatte. Zumindest hatte er sich noch keiner nennenswerten Gefahr ausgesetzt.
Peter drehte sich um und verließ den Raum. Als er in den Flur trat, entdeckte er Lucy Jones vor ihrem kleinen Büro, und er rannte in ihre Richtung.
Eine nach der anderen hatten sich die Entlassungsverhandlungen über den ganzen Vormittag bis in den Nachmittag hingezogen. Sie waren eine Theaterveranstaltung des Vorhersehbaren; Francis brauchte nicht lange, um zu begreifen, dass jemand, sobald er alle Voraussetzungen geschaffen hatte, um hier angehört zu werden, die Entlassung praktisch schon in Händen hatte. Die Charade, die sich vor seinen Augen abspielte, war eine Bürokratenfarce, die nur dazu diente, unvorhersehbare Risiken auszuschließen und Karrieren nicht unnötig zu gefährden. Niemand wollte jemanden beurlauben, der prompt einen psychotischen Tobsuchtsanfall bekam.
Der gelangweilte junge Mann von der Staatsanwaltschaft überprüfte die Antragsteller oberflächlich auf anhängige Verfahren; alles, was er sagte, traf ausnahmslos auf den Widerstand des ebenso jungen Mannes aus dem Büro des Pflichtverteidigers, der als Patientenanwalt fungierte und der den Eifer eines Weltverbesserers dick auftrug. Maßgeblicher für das Verhandlungsteam waren die Einschätzung des Anstaltspersonals sowie die Empfehlungen der jungen Frau von der staatlichen Gesundheitsbehörde, die sich durch ihre Schnellhefter und Notizen wühlte und eine zögerliche, halb stotternde Sprechweise an den Tag legte, was Francis auf bizarre Weise einleuchtete, da sie wirklich jedes Mal die Frage zu beantworten hatte, ob es sicher sei, jemanden rauszulassen, von dem sie letztlich keine Ahnung hatte. »Stellt er eine Gefahr für sich oder andere dar?« Es war wie eine Kirchenlitanei. Sicher war es sicher, dachte er, solange sie ihre Medikamente regelmäßig nahmen und nicht schnurstracks in die Lebensumstände zurückmarschierten, die sie in den Wahnsinn getrieben hatten. Natürlich waren das die einzigen Lebensumstände, die sich ihnen boten, so dass es schwer fiel, jemandes Chancen jenseits der Klinikmauern allzu positiv einzuschätzen.
Patienten wurden entlassen. Patienten kamen zurück. Ein Bumerang des Wahns.
Francis zappelte auf seinem Stuhl herum und hörte, immer noch vorgebeugt, aufmerksam zu, beobachtete das Gesicht jedes Patienten, jedes Arztes, jedes Vaters, jeder Mutter, Schwester oder Cousine, die sich erhoben, um etwas zu sagen. Innerlich empfand er nichts als Aufruhr und Chaos. Seine Stimmen drohten ihm, ihn an einen dunklen, zutiefst qualvollen Ort herabzuziehen. Sie schrien verzweifelt, er solle gehen. Nachdrücklich, kreischend, appellierend, flehentlich, fordernd – alle gleichermaßen inbrünstig, fast hysterisch in ihrem Bestreben. Es war, dachte er, als sei er in einem Orchestergraben inmitten einer höllischen Kakophonie eingezwängt, wo mit jeder Sekunde, die verging, sämtliche Instrumente lauter und schriller und krasser falsch spielten.
Er verstand, wieso. Gelegentlich schloss er die Augen und versuchte, ein wenig zur Ruhe zu kommen. Doch das half nicht viel. Er schwitzte weiter und fühlte, wie sich jeder Muskel in seinem Körper anspannte. Es wunderte ihn nur, dass bisher noch niemand gesehen hatte, welche Kämpfe er innerlich durchlitt, denn er ging davon aus, dass jeder, der ihn richtig ansah, augenblicklich erkennen musste, dass er auf Messers Schneide balancierte.
Francis atmete heftig ein, glaubte aber, dass es keine Luft im Raum gab.
Was können sie nicht sehen?,
fragte er sich.
Die Klinik ist der Ort, an dem sich der Engel versteckt hält. Um nach Belieben töten zu können, muss er in der Lage sein, zu kommen und zu gehen
.
Er blickte über den Raum hinweg Richtung Anhörungsausschuss.
Das hier ist die Tür nach draußen
, rief er sich in Erinnerung.
Francis warf einen verstohlenen Blick auf die Familienangehörigen und Freunde, die die Patienten umringten.
Alle denken, der Engel sei ein einsamer Killer. Aber ich weiß etwas, das sie nicht wissen: Jemand hier in diesem Raum hilft ihm, auch wenn er davon vielleicht nicht die geringste Ahnung hat
.
Und dann:
Wieso hat er Short Blond umgebracht? Wieso hat er hier, wo er sicher war, die Aufmerksamkeit auf sich gelenkt?
Weder Lucy noch Peter hatten diese Frage gestellt, hörte Francis es tief innen rumoren. Das machte ihm erst
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