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Die Anstalt

Die Anstalt

Titel: Die Anstalt Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Katzenbach
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und durchorganisiert und unsäglich berechenbar alles war und wie geistig normale Menschen vorgehen würden. Er wusste, dass der Plan, den sie schmiedeten, ihm ungestörte Ruhe und Gelegenheit verschafften. Ihre vermeintliche Falle war für ihn die ideale Voraussetzung. Weit mehr als sie befasste er sich mit Psychologie und dem Tod, und für ihre phantasielosen Arrangements war er immun. Um sie zu überrumpeln, musste er sich nur darum bemühen, sie nicht zu erschrecken. Sie hatte sich freiwillig in Position gebracht; es musste ihm eine Genugtuung gewesen sein, dass sie bereit war, so weit zu gehen. Und in jener Nacht wusste er, dass ihm ihre Ermordung direkt in die Hände gespielt wurde, dass sie wie ein Unkraut, das lange genug hatte sprießen können, bereit war, ausgerissen zu werden. Jahrelang hatte er geduldig darauf gewartet, Lucy wieder unter dem Messer zu haben, und er hatte fast jeden Gesichtspunkt, jede Eventualität bedacht – außer seltsamerweise die offensichtlichste Möglichkeit –, die man aber auch am leichtesten aus dem Blick verlieren konnte.
    Er hatte nicht mit den Irren gerechnet.
    Bei der Erinnerung kniff ich die Augen zusammen. Ich war mir nicht ganz sicher, ob das alles in der Vergangenheit oder der Gegenwart passierte, in der Klinik oder in der Wohnung. Es brach alles wieder über mich herein – diese Nacht und jene Nacht vor vielen Jahren, alles dasselbe.
    Peter stieß tiefe, gutterale Laute aus, als er die Tür am Schloss verbog, während der Bullige wortlos neben ihm vor Anstrengung schwitzte. Vor mir waren Napoleon, Newsman und all die anderen wie ein Chor aufgestellt und warteten auf meine nächste Anweisung. Ich sah, wie sie vor Angst und Aufregung zitterten und bebten, denn sie verstanden mehr als irgendjemand sonst, dass es eine Nacht war, die sich so kaum je wiederholen würde, eine Nacht, in der Phantasien und Vorstellungen, Halluzinationen und Wahngebilde konkrete Gestalt annahmen.
    Und Lucy, die nur wenige Schritte von alldem entfernt, aber dennoch allein dem Mann ausgeliefert war, der so lange schon nichts anderes als ihren Tod im Auge hatte, wusste, während sie das Messer an der Kehle spürte, dass sie weitere Sekunden herausschlagen musste.
    Lucy versuchte, mit ihren Gedanken durch die Kälte der Klinge und die Schärfe der Schneide zu dringen, die sich ihr in die Haut grub, ein entsetzliches Gefühl, das ihr Denken vernebelte. Vom einen Flurende her hörte sie ein Geräusch wie von Metall, das sich verbiegt. Die verschlossene Tür wehrte sich ächzend gegen die Angriffe von Peter und dem Retardierten mit der Bettgestellstange. Nur langsam und zögernd willigte sie ein, sich zu öffnen und die Helfer durchzulassen. Doch noch lauter als diese Geräusche hörte Lucy, wie die Männer im Schlafsaal das Wort
Apollo
skandierten, was ihr einen Funken Hoffnung gab.
    »Was hat das zu bedeuten?«, herrschte der Engel sie an. Die Geduld, die er bei dem plötzlichen Lärm an den Tag legte, erschreckte sie mehr als alles andere.
    »Was?«
    »Was hat das zu bedeuten?«, fragte er, und seine Stimme wurde leiser, nahm aber einen noch barscheren Ton an. Er brauchte seinen Worten keine Drohung hinzufügen, dachte Lucy, der Ton sagte alles. Immer wieder hämmerte sie sich ein, Zeit zu schinden, und so wartete sie einen Moment.
    »Es ist ein Hilferuf«, sagte sie.
    »Was?«
    »Sie brauchen Hilfe«, wiederholte sie.
    »Wieso brauchen sie …« Dann hielt er inne und sah auf sie herab, das Gesicht zur Fratze verzerrt. Als er sie das letzte Mal gepeinigt hatte, da hatte er sich hinter einer Maske versteckt, doch sie begriff
: Diesmal soll ich ihn sehen, weil er davon ausgeht, dass er das Letzte ist, was ich im Leben sehe
. Sie rang nach Luft und stöhnte wegen der Schmerzen in ihren geschwollenen Lippen und ihrem gebrochenen Kiefer.
    »Sie wissen, dass du da bist.« Sie spuckte Blut, als sie die Worte fauchte. »Sie kommen deinetwegen.«
    »Wer?«
    »All die Verrückten den Flur dort runter«, sagte sie.
    »Weißt du, wie schnell du hier sterben kannst, Lucy?«, fragte er.
    Sie nickte. Sie hielt es für besser, diese Frage nicht zu beantworten, da ihre Worte die Tat nach sich ziehen konnten. Die Messerschneide drang in ihre Haut, und sie fühlte, wie sich unter ihrem Druck das Fleisch ein wenig teilte. Es war eine unerträgliche Empfindung, die ihr von der ersten entsetzlichen Nacht mit dem Engel vor so vielen Jahren noch gut in Erinnerung war.
    »Weißt du, dass ich machen kann, was ich will,

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