Die Anstalt
Lucy, und du kannst absolut nichts dagegen tun?«
Wieder hielt sie den Mund.
»Weißt du, dass ich dich, seit du in die Anstalt gekommen bist, jederzeit hätte töten können, vor aller Augen sogar, und sie hätten nur gesagt, ›Er ist verrückt …‹, und niemand hätte mir Vorwürfe gemacht? So will es euer Gesetz, Lucy, das weißt du doch sicher.«
»Dann mach schon und töte mich«, sagte sie in scharfem Ton. »Genauso, wie du Short Blond und diese anderen Frauen getötet hast.«
Er neigte seinen Kopf noch tiefer zu ihr herab, so dass sie seinen Atem an ihrem Gesicht spüren konnte. Dieselbe Bewegung, die ein Liebhaber machen würde, wenn ihn zu früher Stunde die Pflicht ruft und ihn zwingt, seine schlafende Geliebte zu verlassen.
»Ich würde dich nie wie die anderen töten, Lucy«, zischte er. »Sie sind gestorben, um dich zu mir zu bringen. Sie waren nur Teil eines Plans. Ihr Tod war nichts weiter als Geschäftsroutine. Notwendig, aber nichts Besonderes. Wenn ich gewollt hätte, dass du wie sie stirbst, hätte ich dich schon hundertmal umbringen können, tausendmal. Denk bloß an die vielen Gelegenheiten, als du allein im Dunkeln warst. Vielleicht war ich an deiner Seite, und du hast es nur nicht gewusst. Ich wollte, dass du zu mir kommst.«
Sie antwortete nicht. Sie fühlte, wie sie der kranke Hass des Engels gleich einem Strudel nach unten riss und wie ihr mit jeder Drehung das Leben weiter entglitt.
»Es war so unglaublich einfach«, zischte er. »Eine Mordserie, die unweigerlich die Aufmerksamkeit dieser jungen Senkrechtstarterin von Staatsanwältin auf sich lenkt. Du hast einfach nicht gewusst, dass sie mir nichts bedeuteten und du alles, nicht wahr, Lucy?«
Zur Antwort stöhnte sie.
Am Ende des Flurs ertönte ein lautes Geräusch von reißendem Metall. Der Engel sah auf und suchte im Dunkel nach der Ursache des Lärms. In diesem Moment des Zögerns wusste Lucy, dass ihr Leben auf der Kippe stand. Er hatte vorgehabt, sich an ihrem Sterben zu weiden. Er hatte es alles genau vor Augen gehabt, von dem Moment an, als er auf sie zugeschlendert kam, bis zur Attacke und darüber hinaus. Jedes Wort, das er sagen würde, hatte er in seiner Phantasie durchgespielt, jede Berührung, jeden entsetzlichen Schnitt auf ihrem Weg in den Tod. Jeden Moment seiner wachen Stunden hatte er dieser Wahnvorstellung gefrönt, die er in die Tat umsetzen musste. Das machte ihn mächtig und furchtlos und zu dem Mörder, der er war. Sein ganzes Dasein hatte sich um diesen einen entscheidenden Augenblick gedreht. Doch es kam nicht ganz so, wie er es Tag für Tag in seiner Vorstellung perfektioniert, wie er sich jeden Abschnitt seines Plans ausgemalt, wie er den Tod, den er bereiten wollte, in Gedanken ausgekostet hatte. Sie fühlte, wie sich seine Muskeln zusammenzogen, als ihm die Kluft zwischen Wirklichkeit und Phantasie zu Bewusstsein kam. Sie konnte sich nur noch an die Hoffnung klammern, dass die Wirklichkeit ihn überholte. Sie wusste nicht, ob die Zeit auf ihrer Seite war.
Und dann hörte sie ein zweites Geräusch, das mitten in ihren Albtraum drang. Es kam von oben und klang nach einer Tür, die zugeknallt wurde, und nach trampelnden Füßen auf den Zementstufen des Treppenhauses.
Apollo
hatte gewirkt.
Der Engel brüllte seine ganze Frustration in einem einzigen fürchterlichen Schrei heraus, der durch den Flur widerhallte.
Dann beugte er sich noch einmal herunter. »Also, dann hat Lucy diese Nacht Glück gehabt. Sehr viel Glück. Ich glaube, ich kann nicht länger bleiben. Aber ich komme in einer anderen Nacht wieder, wenn du es am wenigsten erwartest. Und wenn deine ganze Angst und alle deine Vorkehrungen dir kein bisschen helfen, dann bin ich da. Du kannst dich bewaffnen, dich schützen, dich auf irgendeine verlassene Insel oder in einen vergessenen Urwald zurückziehen. Aber früher oder später, Lucy, bin ich an deiner Seite. Und dann können wir das hier zu Ende bringen.«
Er schien sich wieder anzuspannen, und sie merkte, wie er zögerte. »Mach nie das Licht aus, Lucy. Leg dich nie allein im Dunkeln schlafen. Weil mir nämlich Jahre nichts bedeuten. Eines Tages siehst du mich wieder.«
Von einer derart abgrundtiefen Obsession überwältigt, schnappte sie nach Luft.
Er war schon dabei, von ihr herabzusteigen wie ein Reiter vom Pferd. Doch dann fügte er in kaltem Ton hinzu: »Einmal habe ich dir etwas gegeben, was dich bei jedem Blick in den Spiegel an mich erinnert. Jetzt kannst du bei jedem Schritt,
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