Die Anstalt
sich dem Flammenwall gegenübersieht, der ihn zu verschlingen droht. Peter ächzte vor Anstrengung.
Auf dem Boden der Pflegestation kämpfte Lucy verzweifelt darum, ihre fünf Sinne beisammenzuhalten. In den Stunden, Tagen und Monaten nach dem Überfall damals vor so vielen Jahren hatte sie zwangsläufig sämtliche Versionen der Frage:
Was wäre gewesen, wenn
in Gedanken durchgespielt und sämtliche
Hätte ich doch nur
ebenfalls.
Jetzt versuchte sie, sich alle diese Erinnerungen, Selbstvorwürfe und Angstattacken wieder ins Gedächtnis zu rufen und etwas zu finden, was tatsächlich helfen konnte, denn das hier war dasselbe wie damals. Nur dass sie diesmal mehr als Jugend, Unschuld und Schönheit verlieren sollte. Sie schrie sich an und zwang ihre Phantasie, durch Schmerz und Verzweiflung hindurch eine Möglichkeit zur Gegenwehr zu finden.
Sie war dem Engel vollkommen ausgeliefert, von Menschen umgeben und dennoch so isoliert und verlassen, als befänden sie sich auf einer einsamen Insel oder tief in einem dunklen Wald. Hilfe gab es ein Stockwerk höher. Hilfe gab es am Ende des Flurs hinter einer verschlossenen Tür. Hilfe war überall. Hilfe war nirgendwo.
Der Tod war ein Mann mit einem Messer, der sie zu Boden drückte. Er besaß alle Macht; sie begriff, dass all die Planung, Obsession, Vorfreude auf diesen Augenblick wie ein Stromkreis durch den Engel zirkulierte. Jahre der Zwanghaftigkeit und Begierde, die in diesem Moment Erfüllung finden sollten. Sie wusste, dass diese Situation alles, was sie am Juridicum gelernt hatte, weit überstieg, so dass sie seinen Triumph gegen ihn selbst wenden musste, und so sagte sie nicht
Aufhören!
oder
Bitte!
oder auch nur
Wieso?
, sondern spuckte zwischen den geschwollenen Lippen und halb ausgeschlagenen Zähnen eine Bemerkung aus, die reiner Fiktion und purer Arroganz entsprang. »Wir haben die ganze Zeit gewusst, dass du das warst …«
Er zögerte. Dann drückte er ihr die flache Klinge an die Wange. »Du lügst«, zischte der Engel. Doch er schnitt sie nicht. Noch nicht, und Lucy wusste, dass sie ihm ein paar Sekunden Aufschub abgetrotzt hatte. Keine Überlebenschance, aber einen Augenblick, der den Engel verunsicherte.
Der Lärm, den Peter und Francis dabei machten, als sie wild am Bettgestell zerrten, um ein Stück Stahl loszureißen, weckte schließlich doch die Patienten im Schlafsaal aus ihrem unruhigen Schlaf. Wie Gespenster, die an Allerheiligen aus den Gräbern steigen, räkelten sich die Männer in der Station und schüttelten die betäubende Wirkung ihrer täglichen Beruhigungsmittel ab. Sie rappelten sich halb auf und kamen schwankend auf die Beine, während sie blinzelnd zur Kenntnis nahmen, dass sie Peter zum ersten Mal in Panik sahen, so wie er mit jeder Muskelfaser gegen das Metall ankämpfte.
»Was ist los, C-Bird?«
Francis hörte die Frage und hob den Kopf in die Richtung der Stimme. Es war Napoleon. Als Francis einen Moment schwieg, weil er überlegte, was er antworten sollte, sah er, wie die Männer des Amherst-Gebäudes langsam von ihren Betten herüberschlurften und sich hinter Napoleon versammelten, von wo aus sie durch das Dunkel im Raum zu Francis und zu Peter hinüberstarrten, dessen verzweifelte Mühen die ersten bescheidenen Ergebnisse zeitigten. Er hatte beinahe ein ein Meter langes Stück des Rahmens frei, und er ächzte und wand sich im Kampf mit dem widerspenstigen Eisen.
»Es ist wegen dem Engel«, sagte Francis. »Er ist da draußen.«
Es gab Gemurmel, eine Mischung aus Angst und Staunen. Ein paar der Männer kauerten sich zu Boden bei dem Gedanken, dass der Mörder von Short Blond in der Nähe war.
»Was macht Fireman da?«, fragte Napoleon, wobei er zaudernd und unentschlossen über jedes seiner Worte stolperte.
»Wir müssen die Tür aufkriegen«, sagte Francis. »Er versucht, an etwas ranzukommen, womit er sie aufstemmen kann.«
»Sollten wir nicht, wenn der Engel da draußen ist, die Tür lieber blockieren?«
Ein anderer Patient murmelte zustimmend. »Wir müssen ihn draußen halten. Wie sollen wir uns vor ihm schützen, wenn er hier reinkommt?«
Ganz hinten hörte Francis jemanden sagen: »Wir müssen uns verstecken!«, und zuerst fragte er sich, ob es eine seiner eigenen Stimmen war. Doch dann merkte er, dass die Männer unentschlossen dastanden und dass seine Stimmen ausnahmsweise schwiegen.
Peter sah auf. Von der Anstrengung tropfte ihm der Schweiß von der Stirn, so dass sein Gesicht im fahlen Lichtschein
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