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Die Apothekerin

Die Apothekerin

Titel: Die Apothekerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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Granada telefonisch zu recherchieren, er sprach ein wenig Spanisch. Das junge Paar war auf Hochzeitsreise, erfuhr er, die Gäste waren abgereist.
    Sorgen machte ich mir keine um Levin, auch wenn Dieter das dachte. Sollte meinem Ehemann bei seinem Fahrstil wirklich etwas passieren, so hörte ich das früh genug. Die Ruhe ohne Levin und Margot tat mir gut. Ich wollte die Verschnaufpause genießen, die mir das Schicksal geschenkt hatte. Dieter hatte eine stille Art, gelegentlich in der Küche aufzukreuzen, die mich eher freute als störte. Sorgen machte mir nur mein Kater Tamerlan; seit Margots Tod wollte er kaum fressen, er trauerte. Mir war zwar klar gewesen, daß er meine Abwesenheit dazu benutzte, sich in der oberen Etage einzunisten, doch daß er ausgerechnet meine Feindin liebte, hatte ich ihm nicht zugetraut. Aber wer konnte ahnen, was sich in seinem dicken Kopf abspielte.
Eines Abends - Levin war überfällig - kam ich nach Hause und sah im Dunkeln eine verhuschte Gestalt vor der Haustür stehen, die mich in ihrer ärmlichen Zottigkeit sofort an Margot erinnerte. Es war ihre Mutter. Dieter war nicht zu Hause. Was blieb mir anderes übrig, als die Frau mit hinein zu nehmen? Sie wohnte in einem Dorf in der Umgebung, hatte den Kontakt mit ihrer Tochter schon lange abgebrochen und jetzt erst durch die Polizei von ihrem Tod erfahren. Voller Vorwürfe sah sie mich an. Beklommen entschuldigte ich mich, ich sei nur die Hausbesitzerin.
    Ich mußte Tee kochen und Taschentücher ausleihen. Frau Müller erzählte, daß der Vater ihrer unehelichen Tochter inzwischen tot sei. Schon mit fünfzehn gehörte Margot zur Hascher-Szene; schließlich nahm sie harte Drogen. Sie kam zum Entzug in ein Heim, riß aus, wurde auf dem Babystrich aufgegriffen, besserte sich durch die Betreuung einer Sozialhelferin und begann eine Schneiderlehre. Als sie wiederholt unentschuldigt der Werkstatt fernblieb, wurde sie entlassen. Nach diesem Rückfall ging das Ganze von neuem los. Schließlich wollte Frau Müller nichts mehr von ihrer Tochter wissen.
    Hatte ich solche Geschichten nicht schon oft gehört? Zum Glück traf wenig später Dieter ein. Nun mußte er sich bittere Anschuldigungen anhören. Als er sich nach vielen Stunden zu mir in den Wintergarten setzte, war er ebenso angeschlagen wie ich.
    Am nächsten Tag kam ein Telegramm. BIN IN MAROKKO, ALLES OKAY, LOVE LEVIN. Dieter las es auch und schüttelte den Kopf. »Nicht die feine englische Art.«
    Mir war es egal. Ohne Störenfriede war mein Haus eine Wohltat. Ich hatte das dringende Bedürfnis, mir selbst etwas Gutes zu tun. Täglich brachte ich aus Heidelberg irgendeinen Gegenstand zur Verschönerung mit, prächtige Blumensträuße und Duftkerzen, Seidenkissen und einen edlen Teppich.
    Jeden Abend aßen Dieter und ich gemeinsam; beim Küchendienst wechselten wir uns ab. Ich ertappte mich dabei, daß ich mich für das Abendessen ein bißchen schön machte und eine Spur enttäuscht war, wenn er nicht vor mir da war.
    Gelegentlich hatte ich Lust, Tapeten für die Mansarde auszusuchen, aber dann kamen mir Skrupel, diese Räume zu betreten. Dieter lebte nun allein in der oberen Etage, und um die Wahrheit zu sagen, ich mochte nicht mehr an seinen Auszug denken.
    Eines Tages stand mein Bruder vor der Tür - zum Glück ohne Familie. Zwar blieb er nur einen Abend, aber ich freute mich sehr. Ganz vertraut und gemütlich saßen wir beisammen und redeten über unsere Kindheit, die Eltern und meine Hochzeitsfeier. Bis Bob bemerkte: »Es wundert mich, daß Papa auf deiner Hochzeit Fleisch gegessen hat, vielleicht hat er den Schock überwunden, wer weiß.«
    »Welchen Schock?«
»Sag bloß, Mutter hat es dir nie verraten…«
Ich starrte ihn an. Wieder einmal hatte unsere Mutter
    meinem Bruder Geheimnisse anvertraut, die ich nicht zu hören bekam. Alte Wunden brachen auf. »Nun leg schon los!« befahl ich.
    Unser lieber Großvater war ein großer Nazi gewesen, das wußten wir alle, aber es wurde nicht darüber gesprochen.
Erst Jahre nach seinem Tod, als mein Vater die letzten Schriftstücke gesichtet hatte, dämmerte es ihm, daß er der Sohn eines Verbrechers war. Mein Großvater hatte an einem experimentellen Euthanasie-Programm mitgewirkt; er hatte - auf Befehl zwar - geisteskranken Patienten der Städtischen Klinik vergiftete Arzneien zusammengemischt, die mehr oder weniger schnell zum Tode führten. In einem verschlüsselten Protokoll waren Fälle notiert, die die Anfangsbuchstaben der Verstorbenen

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