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Die Apothekerin

Die Apothekerin

Titel: Die Apothekerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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gefrorenen Pfützen in Sprünge. Ein Eichelhäher verfolgte uns.
Als ich zurückschaute, sah ich mit Wohlgefallen unsere vielfältigen Fußstapfen: für einen Spurensucher die Zeichen einer vergnügten kleinen Familie.
Am Ende unseres langen Spaziergangs ließen sich die faulen Kinder auf dem Schlitten ziehen. Schließlich saßen wir in einer warmen Gaststube und spielten das Spiel: Ich seh’ etwas, was du nicht siehst.
Als alle roten, grünen und wer weiß was für farbigen Gegenstände erraten waren, behauptete Pawel, etwas Goldenes zu sehen.
Wir rieten vergeblich.
»Es ist Hellas Herz«, sagte er, und die Kleinen protestierten: »Das gilt nicht.«
Mein Goldherz klopfte.
    Rosemarie Hirte knurrte: » Von wegen! Golden! Daß ich nicht lache! Auf solchen Kitsch fällst du natürlich rein!«
    »Wer von euch«, fragte Pawel schließlich seine Kinder, »will zu mir ins Zimmer und wer zu Hella?«
Ich hatte so etwas befürchtet.
Die Kinder sahen mich an und schwiegen taktvoll. Dann sagte Lene: »Ich will zu meinem Papa.«
Der Junge war mit seinen sechs Jahren schon zu höflich, um meine Gesellschaft abzulehnen. »Am besten, die Erwachsenen schlafen in einem Zimmer und die Kinder im anderen.«
Pawel und ich sahen uns an. Ich nickte vielleicht zu schnell.
Wir schliefen zwar in ein und demselben Zimmer, aber nicht miteinander. Lange unterhielten wir uns wie ein vertrautes Ehepaar, dann machte Pawel das Licht aus. Mitten in der Nacht spürte ich Besuch im Bett, es war Lene. Ich knipste die Nachttischlampe an und sah Kolja bei seinem Vater liegen.
Levin hatte ich ausrichten lassen, ich sei ein paar Tage verreist. Wahrscheinlich nahm er das übel, aber ich wollte lieber meinem ungeborenen Kind einen Gefallen tun. Die drei Tage im Schnee, die langen Spaziergänge und Mittagsschläfchen taten denn auch sehr gut.
Als ich nach meinem ersten Arbeitstag wieder an Levins Bett saß, konnte er bereits Vorwürfe nuscheln. Er fragte nicht, wo ich gewesen sei, sondern beklagte die eigene zahnlose Existenz. In zwei Tagen durfte er heim, aber dann stand ihm die Prozedur beim Zahnarzt bevor.
»Was ist mit Dieter?« fragte ich.
Levin hatte ihn seltsamerweise besucht. Dieter lag nicht mehr auf der Intensivstation, sei auf dem Weg der Besserung, aber hochgradig depressiv. Eine Aussprache war mit beiden unmöglich.
    Als Levin entlassen wurde, konnte ich ihn nicht auf der Stelle in die Wüste schicken; sein Bett hatte ich sowieso schon in das Studierstübchen verlegt. Nach einigen Tagen stellte er wie zu erwarten die Frage nach dem wahren Kindsvater.
    Mir fiel kein salomonisches Urteil ein. Ich gab zu, mit Dieter geschlafen zu haben. Aber da er und Margot… »Am besten lassen wir uns sofort scheiden.«
    Levin sprach die Sache tagelang nicht mehr an, er schien nachzudenken.
    Jeden Nachmittag besuchte ich nach Dienstschluß meinen neuen Freund. Wir umarmten uns herzlich, mehr war nie. Die Kinder begannen mich zu lieben.
    Viele musikalische Erlebnisse verdanke ich Freunden. Der eine hatte mir Mozart nahegebracht, der andere Satchmo. Levin liebte alte Schlager und die Beatles. Pawel besaß ein Klavier und sang mit Lene Kinderlieder. Er hatte eine wunderschöne Baritonstimme. Manchmal gab er ein kleines Konzert für mich, sang Mahler oder Brahms, genierte sich ein wenig und hörte unter volltönendem Lachen plötzlich auf, wenn er sich versungen oder verspielt hatte.
    Ich war begeistert.
Eines Tages zeigte er mir alte Fotos seiner Frau. »Bildschön« oder so ähnlich, hatte Dorit gesagt. Aber wenn man von ihrem Wahnsinn wußte, war er bereits zu ahnen. Ich spürte ein Frösteln, als sei diese Gestalt aus einer anderen Welt emporgestiegen.
»Wunderschön«, sagte ich vorsichtig.
»Schön, aber unaufrichtig«, sagte Pawel. »Die Krankheit brach zum ersten Mal in ihrer Pubertät aus, das hat sie mir verschwiegen. Nun ja, vielleicht hätte das jeder getan.«
Wir vertrauten uns. Pawel war der einzige Außenstehende, der das Problem mit den beiden Vätern zu hören bekam. Ich war dankbar, daß er nicht lachte.
Eines Tages traf ich auch ihn in schlechter Verfassung an. Wortlos hielt er mir ein Einschreiben entgegen: Seine Hausbesitzerin kündigte ihm. »Jetzt muß ich wieder auf Wohnungssuche gehen«, sagte Pawel, »wie ich das hasse! Wenn du hörst, daß irgendwo etwas frei wird, sag mir Bescheid.«
Als Apothekerin hört man tatsächlich viel, vor allem auch von Todesfällen. Doch Pawel wollte in keinem Fall zu Angehörigen frisch Verstorbener laufen und

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