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Die Apothekerin

Die Apothekerin

Titel: Die Apothekerin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingrid Noll
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besuchen wollte.
»Es ist sowieso zu spät«, sagte Pawel, »in Krankenhäusern gibt es um fünf Abendessen und um acht wird geschlafen, dafür wird man um sechs geweckt. Aber man könnte noch auf der Station anrufen.«
Ich mochte nicht.
Wir tranken zusammen Tee. »Wo hast du deine Kinder gelassen?« fragte ich.
»Eine Nachbarin sitzt bei ihnen und liest ihnen Heidi vor«, sagte er, und ich spürte einen kleinen Stich. »Eine hübsche junge Nachbarin?« fragte ich mit einem mißratenen Versuch der Ironie.
Pawel grinste nur.
Immerhin hatte er sich Sorgen um mich gemacht, nur hatte er als alleinerziehender Vater wenig Zeit, er mußte bald wieder gehen. Aber ich war gestärkt, denn von Pawel ging etwas Positives aus, das ich bei meinen bisherigen Freunden vermißt hatte.
    Am nächsten Tag hatte ich die Kraft, Levin im Krankenhaus zu besuchen. Er lag in einem Zweibettzimmer. Zuerst sah ich nur ein merkwürdiges Profil, das in auffälliger Weise einem Ameisenbären glich. Levins Mund- und Nasenpartie waren genäht, verbunden, geschwollen und violett unterlaufen. Er konnte nicht sprechen und saugte mühsam an einem Strohhalm, der schief in seinem Rüssel steckte.
    »Wie geht’s dir?« fragte ich überflüssigerweise.
Er rollte die Augen verzweifelt gen Himmel.
»Nun, da muß man halt mal die Zähne aufeinanderbeißen«,
    sagte ich mit niederträchtiger Freundlichkeit.
    Dann saß ich ein wenig neben ihm, und wurde doch wieder gesprächig. Sollte ich ihm die Fortsetzung von Dieters Wüterei erzählen? Levin gab zu erkennen, daß er Bescheid wußte. Er schrieb auf einen Zettel, ein Polizist sei zum Verhör gekommen, habe aber eingesehen, daß Levin nicht aussagen konnte. Immerhin hatte er verraten, daß Dieter schwer verletzt im selben Krankenhaus auf der Intensivstation lag.
    »Kommt er durch?« fragte ich.

    Das wußte Levin nicht.
    Ich zeigte meine Würgemale, er nickte anerkennend. Wir waren Leidensgenossen. Über die Vaterschaft sprachen wir ebensowenig wie über die Scheidung.
    »Soll ich dir irgend etwas bringen? Bücher, Saft, Pudding?« fragte ich.
Levin schrieb auf: »Reisebücher, Comics, nichts Saures zum Trinken, vielleicht Bananensaft.«
Ich versprach es.
Dann begab ich mich in die Nähe der Intensivstation. Die Stationsschwester ließ sich nicht über Prognosen aus, sondern sagte nur, frisch Operierte dürften nicht besucht werden.
    Kaum war ich wieder zu Hause, rief ich Pawel an. »Sollen wir zu dir kommen oder kommst du zu uns?« fragte er.
    Die Kinder fühlten sich wohl bei mir, zum Glück hatte ich immer Milch und Kakaopulver vorrätig, zu dieser Jahreszeit sogar Berge von Weihnachtsgebäck.
    Lenchen und ihr Bruder Kolja bauten mit Hilfe ihres Vaters einen Schneemann, den Tamerlan mißtrauisch umkreiste. »Hast du einen Schlitten?« fragte mich Kolja.
    Ich hatte einen, aber leider keinen passenden Hausberg. Pawel kam dadurch auf die Idee, ein paar Tage mit den Kindern in die Berge zu fahren. »Willst du mit?« fragte er mich.
Nur zu gern, aber vor langen Autofahrten in die Schweiz oder nach Österreich graute mir.
»Ist auch gar nicht nötig«, sagte Pawel, »ich bin kein großer Sportler, mir reicht es, mit den Kindern zu rodeln, und das kann man auch im Odenwald. Den beiden täte es gut nach ihren Masern.«
Wir zögerten nicht lange, denn die Schulferien gingen bereits dem Ende entgegen.
Pawel fuhr in einen kleinen Luftkurort. Am Parkplatz war der Schnee nicht gerade blendend weiß, die Auspuffgase hatten eine Spur hinterlassen, die sich wie Zimt auf dem zuckrigen Pulverschnee ausnahm, die aufgeschürfte Erde wie Borkenschokolade. Voller Tatendrang stiegen wir aus und blieben gleich wieder stehen, um in die Ferne zu blicken. Am Horizont wurden die Berge heller, die winterlichen Farben noch zarter, Bogen um Bogen stuften sich die Hügelzüge. In weiße Felder gebettet standen graue Apfelbäume, die neben grünem Brombeergesträuch und rötlichbraunen Buchenblättern mit einer leichten Kolorierung die Winterlandschaft belebten. Dunkle Tannen, schwarze Raben, eine Friedhofmauer.
Wir wanderten über sanfte Kuppen, krochen durch Viehzäune, ließen die Kinder auf Hochsitze klettern, auf Holzstämmen balancieren und teilten in einer bemoosten Schutzhütte Gummibären aus. Pawel erklärte dem uninteressierten Sohn, wie man die Himmelsrichtungen anhand der grünen Wetterseite an den Bäumen erkennt, zeigte eine Schautafel mit einheimischen Singvögeln und hackte wie seine Kinder mit dem Stiefelabsatz das Eis auf

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