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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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den Kühlschrank auf. Findest du eine ungeöffnete Flasche Mineralwasser, dann trink!«
    »Hetz mich nicht!«
    Die erste Tür führte ins Bad, die zweite in die Abstellkammer, die dritte nach unten in den Keller. Die vierte war die richtige. Atemlos öffnete er den Kühlschrank, der in einen Verbau aus Buchenholz eingelassen war. Tatsächlich entdeckte er eine Flasche Mineralwasser, und sie war nicht angebrochen. Er trank.
    Während er auf neue Anweisungen wartete, ließ er den Blick schweifen. Die Möbel bestanden aus Vollholz. An der Wand hing ein Kunstdruck von Dalí, der schmelzende Uhren zeigte. Kochhitze und Dämpfe hatten ihm bereits zugesetzt.
    Die Kombination verwirrte ihn. Beschaffenheit und Wert der Einrichtung sprachen für ältere Besitzer, derartige Drucke hingegen fanden sich in Studentenwohnungen. Vermutlich gab es Nachwuchs, der diesen Stilbruch durchgesetzt hatte.
    Neben dem Bild hing ein Abreißkalender. Das oberste Blatt zeigte den 3. Juli an. Unter der Ziffer las er den Sinnspruch des Tages:
    Das Wahre weiß seinen Wert aus sich heraus . (Herbert Rosendorfer)
    Er riß das Blatt ab, steckte es ein.
    »Du suchst jetzt einen Kugelschreiber und ein Stück Papier.«
    »Darf es auch ein Bleistift sein?«
    Einen Kugelschreiber fand er in einer der Schubladen. Ein Notizblock lag auf dem Küchentisch. Das erste Blatt war mit einer Einkaufsliste beschrieben. Er klappte es nach hinten. Er schloß die Augen, summte eine Melodie, bemühte sich, an nichts zu denken.
    »Du schreibst das erste Wort auf, das dir in den Sinn kommt.«
    Obst , schrieb er.
    Na toll, dachte er. Jetzt sitze ich in einer fremden Küche und schreibe Obst .
    »Steck den Zettel ein. Nun sieh dich im Haus um. Halte die Augen offen. Zweimal hinsehen ist besser als etwas zu übersehen.«
    Er wunderte sich über die Banalität der Weisheiten, die sein Kommandant von sich gab. Schon die ganze Zeit über hatte sich Jonas bemüht, auf seiner Seite der Geschichte zu bleiben. Nicht an das zu denken, was er auf die Kassette gesprochen hatte, um nichts vorwegzunehmen. Nun tat er einen kurzen Schritt aus dieser Perspektive heraus. Er dachte nach. Er konnte sich nicht erinnern, den letzten Satz gesprochen zu haben. Er kehrte wieder auf seine Seite zurück. Löschte alle Gedanken, so gut es möglich war.
    Im Wohnzimmer stieß er auf eine Art altägyptische Statue. Von Kunstgeschichte verstand er wenig, er konnte den Fund nicht deuten. Es schien sich um eine Frauenfigur zu handeln. Das Gesicht war ausdruckslos und wenig vertrauenerweckend. Womöglich sollte die lebensgroße Plastik Nofretete darstellen. Ihn erinnerte sie mit dem mächtigen Schädel und der breiten, schleierartigen Frisur mehr an einen schwarzen Rapper auf MTV . Er fragte sich, wer sich so etwas ins Wohnzimmer stellte. Kunden mit so einem Geschmack hatte er nie gehabt.
    Er ging durch alle Räume. Nebenbei sprach er ins Telefon. Er berichtete von der Ausstattung des Schlafzimmers, von den Teppichen im Flur, vom leeren Vogelkäfig, vom Aquarium, in dessen sanft plätscherndem Wasser keine Fische schwammen. Er schilderte den Inhalt der Kleiderschränke. Er zählte die Aktenordner im Arbeitszimmer. Befühlte einen schweren Aschenbecher, der aus einem ihm unbekannten Material gefertigt war. Er durchstöberte Schubladen. Er tappte hinab in den Keller und in die Garage, wo es betäubend scharf nach Benzin roch.
    Gerade als er ein Jungmädchenzimmer verließ, in dem Ordnung und Sauberkeit keine hervorragende Rolle gespielt hatten, sagte die Stimme im Telefon:
    »Hast du das gesehen?«
    Er blieb stehen. Schaute über die Schulter zurück.
    »Hast du es bemerkt? Da war etwas. Du hast es ganz kurz gesehen.«
    Er hatte nichts gesehen.
    »Für einen Moment war es da.«
    Eine innere Stimme warnte ihn, nicht in dieses Zimmer zurückzugehen. Die Stimme im Hörer trieb ihn an. Er schwankte. Er schloß die Augen und legte die Hand auf die Klinke. Langsam drückte er sie hinunter. Der Druck seiner Hand ließ nach, nur ein wenig, so wenig, daß er es bloß wußte, nicht aber spürte. Er drückte, und zugleich drückte er langsamer.
    Ihn packte das Gefühl, die Zeit friere unter seinen Händen ein. Das Metall der Klinke fühlte sich weich an. Es schien mit der Umgebung zu verschmelzen. Dabei war es weder heiß noch kalt, es hatte überhaupt keine Temperatur. Ohne einen Ton zu hören, hatte er das Gefühl, grollenden Lärm zu erleben, Lärm, der stofflich war und der aus keiner bestimmten Richtung drang.

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