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Die Arbeit der Nacht

Die Arbeit der Nacht

Titel: Die Arbeit der Nacht Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Glavinic
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gerissen.
    Als er zum Lkw hastete, waren seine Beine taub. Er japste und hechelte. In der Brust spürte er ein Stechen, das von Sekunde zu Sekunde zunahm. Ab und zu hörte er sich schreien. Seine Stimme klang heiser und fremd.
    In Kapfenberg kam er am späten Nachmittag an. Ihm blieb genug Zeit, und so trank er auf dem Hauptplatz im Gastgarten einer Konditorei Kaffee. Er streckte sich, vertrat sich die Beine, schaute umher wie ein Urlauber, der seinen Kurort erkundete. Mit der Bahn war er einige Male durchgefahren, davon abgesehen war er seit seiner Kindheit nicht mehr hiergewesen.
    Er suchte nach einem Waffengeschäft. Nachdem er eine halbe Stunde vergebens herumgelaufen war, stellte er sich in eine Telefonzelle und zog das Adressenverzeichnis zu Rate. Es gab ein Waffengeschäft, und es lag auf der Strecke. Er ging zurück zum Lkw.
    Das Geschäft führte ausschließlich Jagdbedarf. Eine Pumpgun sah er nicht. Selbst gewöhnliche Kleinkaliber waren in den Auslagen nicht zu finden. Dafür konnte er sich über die Auswahl an Jagdgewehren nicht beklagen. Er nahm sich ein Steyr 96, über dessen Bedienungskomfort er irgendwann gelesen zu haben meinte, und steckte Munition ein. Im Laufschritt verließ er den Laden. Unter allen Umständen mußte er vor Sonnenuntergang ankommen.
    Von Krieglach an fuhr er nach der Karte. Er war zwanzig Jahre nicht hiergewesen, zudem hatte er nie selbst den Wagen gelenkt und dementsprechend wenig auf die Strecke geachtet.
    Er ließ den Ort hinter sich. Der Weg wurde kurvig und stieg an. Als Jonas schon zu bangen begann, der Lastwagen sei zu breit für die immer schmaler werdende Straße, kam er an eine Kreuzung. Die Straße, über die es weiterging, war besser ausgebaut.
    Eine halbe Stunde, hatte er geschätzt, würde es dauern, bis das Anwesen in Sicht kam. Doch erst nach vierzig Minuten glaubte er eine bestimmte Kurve wiederzuerkennen. Er hatte das Gefühl, hinter der nächsten Biegung sei er am Ziel, und diesmal täuschte er sich nicht. Eine hölzerne Tafel am Straßenrand, von hohem Gras umwuchert, hieß ihn in Kanzelstein willkommen. Die Tafel kannte er nicht, den Ausblick, der sich ihm nach einer langgezogenen Kurve bot, hingegen gut. Links der Gasthof des Ehepaars Löhneberger, der nur sonntags Gäste aus umliegenden Gemeinden anzog, und rechts das Ferienhaus. Zwischen den beiden Gebäuden endete das Asphaltband. Daran grenzte ein schmaler, staubiger Weg, der sich im Wald verlor. Von hier aus konnte man nur noch zurück. Jedenfalls mit dem Auto. Schon als Kind hatte er sich darüber gewundert, daß es eine Ortschaft gab, die nur aus zwei Häusern bestand. Von denen eines noch dazu bloß zu bestimmten Zeiten im Jahr bewohnt wurde, nämlich zu Weihnachten und Silvester, zu Ostern und während des Sommers.
    Woher es rührte, wußte er nicht. Doch beim Anblick der beiden einsamen Häuser beschlich ihn ein vages Gefühl von Furcht. Als sei etwas mit diesem Platz nicht in Ordnung. Als habe etwas nur auf ihn gewartet. Und hätte sich kurz vor seiner Ankunft versteckt.
    Aber das war Unsinn.
    Seine Ohren knacksten. Er hielt sich die Nase zu und atmete mit geschlossenem Mund aus, um den Druck auszugleichen. Er war auf 900 Metern Seehöhe angekommen. »Die gesündeste Höhe überhaupt«, hatte seine Mutter bei der Ankunft nie zu erwähnen vergessen, und auf das Gesicht des Vaters hatte sich ein ungeduldiger Ausdruck gelegt.
    Er hupte. Nachdem er sich davon überzeugt hatte, daß das Blinken in einem Fenster des Gasthauses von der sich spiegelnden Sonne stammte, sprang er vom Führerhaus. Er holte tief Atem. Es roch nach Wald und Gras. Ein angenehmer Duft, der jedoch schwächer war, als er sich vorgestellt hatte.
    Auf dem Parkplatz des Ferienhauses stand ein buntbemalter VW Käfer, daneben ein Motorrad. Jonas kontrollierte die Kennzeichen. Die Urlauber stammten aus Sachsen. Er spähte ins Innere des Wagens. Er entdeckte nichts, was ihm wichtig erschien.
    Mit dem Jagdgewehr im Arm trottete er den Trampelpfad hinab zum hölzernen Gartentor vor dem Ferienhaus. Sein Herz schlug schneller. Bei jedem Schritt mußte er daran denken, daß er hier schon oft gegangen war, jedoch als ein ganz anderer, mit einem anderen Leben. Zwanzig Jahre lag es zurück. Die Wiesen ringsum, der Wald, der hinter dem Haus dunkel aufragte, er hatte alles schon gesehen, als Junge. Das Haus, auf das er zuging, er kannte es gut – erinnerte es sich auch an ihn? Hinter diesen Fenstern war er beim Essen gesessen, hatte er

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