Die Arbeit der Nacht
der Kühltruhe gefunden hatte. Um wenigstens etwas zu schmecken, fügte er Wein und Suppenwürfel hinzu.
Ob er die Treppe zu den Privaträumen der Löhnebergers hinaufsteigen sollte? Oben war er nie gewesen. Ein Blick aus dem Fenster erinnerte ihn, daß die Sonne bereits tief stand. Er packte zwei Flaschen Bier in eine Plastiktüte.
Alles schien friedlich.
Er schlenderte durch den Garten. Mit der Hand faßte er hochstehende Halme. Er pflückte Johannisbeeren. Sie schmeckten fade. Er spuckte sie aus. Er umrundete das Haus und stieß auf die Tür zum Holzkeller. An den hatte er nicht mehr gedacht.
Noch immer stand in der Mitte des Raums, in den die Sonne nur durch ein kleines Fenster über dem Holzstapel dringen konnte, ein breiter Baumstumpf, auf dem mit dem Beil Kleinholz gemacht wurde. Auch hier hatte er sich vor seiner vom Garten besessenen Mutter oft versteckt. Mit dem Taschenmesser hatte er aus Holzklötzen kleine Männchen geschnitzt, die ihm zuweilen gut gelungen waren. Am Ende des Urlaubs hatte er eine hübsche Sammlung zurückgelassen. Trotzdem war er nicht gern in dem finsteren Gewölbe gesessen. Aber solange er hin und wieder jemanden rufen hörte, zog er der Gesellschaft seiner eifernden Mutter die von Spinnen und Käfern vor.
Er schaute in den Winkel hinter der Tür. Schaute wieder weg. Schaute noch einmal hin. Werkzeug stand da. Ein Spaten, eine Hacke, ein Besen, ein Stock.
Er schaute genauer. Griff nach dem Stock. Er war mit Schnitzereien verziert.
Um besser zu sehen, nahm Jonas ihn mit nach draußen. Er erkannte die Motive wieder. Kein Zweifel. Es war der Stock, den ihm der Alte geschenkt hatte.
Er ging ins Haus. Den Schlüssel fand er glücklicherweise in einem Kästchen neben der Tür. Er sperrte ab. Nach kurzem Überlegen steckte er den Schlüssel ein. In der Wohnküche öffnete er eine Flasche Bier, dann setzte er sich und betrachtete den Stock.
Zwanzig Jahre.
Dieser Stock war etwas anderes als die Bank, auf der er gerade saß, oder das Bett, in das er sich später legen würde, oder die Holzkiste, die dort drüben stand. Dieser Stock war sein Besitz gewesen, vor zwanzig Jahren, und in gewisser Weise hatte er nie aufgehört, es zu sein. Er war in einem schmutzigen Winkel gestanden, niemand hatte sich um ihn gekümmert, zwanzigmal hatten in der Nähe Menschen den letzten Tag des Jahres gefeiert und Raketen abgeschossen, und der Stock war im Holzkeller gelehnt und hatte sich nicht um Weihnachten oder Silvester oder die singenden Besucher gekümmert. Jetzt war Jonas wieder da, und der Stock gehörte ihm.
Vieles hatte sich verändert, seit er den Stock das letztemal gesehen hatte. Er hatte die Schule abgeschlossen, war beim Militär untergekommen, hatte Frauen kennengelernt, seine Mutter war gestorben. Er war erwachsen geworden und hatte ein eigenes Leben begonnen. Der Jonas, der diesen Stock das letztemal berührt hatte, war ein Kind gewesen. Ein ganz anderer. Und doch nicht. Denn wenn er in sich hineinhorchte, war das Ich, das er da fand, kein anderes als das, dessen er sich erinnerte. Wenn er mit diesem Stock in der Hand vor zwanzig Jahren ich gesagt hatte, hatte er dasselbe gemeint wie heute. Er war das. Jonas. Er entkam nicht. Würde es immer sein. Was auch geschah. Nie ein anderer. Kein Martin. Kein Peter. Kein Richard. Nur er.
Er ertrug es nicht, der Nacht bei ihrer Arbeit zuzusehen. Er ließ in der Wohnküche alle Jalousien herunterrattern. Er schloß die Kamera an den Fernseher an und legte das Band von vergangener Nacht ein.
Er sah sich an der Kamera vorbeigehen und ins Bett kriechen.
Nach einer Stunde wälzte sich der Schläfer zum erstenmal herum.
Nach zwei Stunden drehte er sich auf die Seite.
In dieser Haltung schlief er, bis das Band endete.
Nichts, gar nichts war geschehen. Er schaltete ab. Mitternacht. Er hatte Durst. Längst war die zweite Flasche Bier leer. In seinem Jausenpaket von der Tankstelle fand er nur noch Vollkornbrot, Süßigkeiten und Limonade. Er wollte Bier.
Mit den Fingerknöcheln gegen die Wände klopfend, ging er hinaus auf den Flur. Er schaltete das Licht ab und blickte aus dem Fenster. Die Dunkelheit draußen war undurchdringlich. Vor die Sterne hatten sich Wolken geschoben. Auch der Mond schien nicht. Den Weg, der da vorne rechts an der Kegelbahn vorbei zum Gasthaus hinaufführte, ahnte er mehr, als er ihn sah.
Eines Abends hatte ihm Onkel Reinhard eine Wette angeboten. Vom Gasthaus sollte Jonas Limonade holen. Allein, ohne Taschenlampe solle er
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