Die Arbeit der Nacht
den Fenstern des Gasthauses genügte, Jonas sah nun, wohin er den Fuß setzte. Aber er sah auch, wo das Licht endete und die Dunkelheit wartete, wie das Meer.
Als er in die Finsternis eintauchte, spürte er, daß er es nicht schaffen konnte. Gleich würde er zu denken beginnen. Und dann würde es vorbei sein.
Er begann zu rennen. Er stolperte, fing sich im letzten Moment. Mit einem Tritt öffnete er das Gartentor. Er sprang ins Haus, drückte die Tür zu, sperrte ab. Mit dem Rücken an der Tür rutschte er zu Boden, die kalten Flaschen in den Händen.
Um zwei Uhr früh lag er in seinem Bett und prüfte, wieviel ihm noch von der zweiten Flasche blieb. Die Kamera stand vor dem Bett. Eingeschaltet hatte er sie noch nicht. Er tat es nun und drehte sich zur Seite.
Er erwachte, linste auf die Uhr. Es war drei. Er mußte vorhin sofort in Schlaf gefallen sein.
Die Kamera summte.
Er meinte, über sich noch andere Geräusche zu hören. Ein Rollen wie von einer eisernen Kugel, ein Knarren von Schritten. Zugleich zweifelte er nicht, daß ihm diese Laute seine Phantasie eingab.
Er mußte daran denken, daß die Kamera in diesem Moment ihn filmte. Ihn, und nicht den Schläfer. Würde er beim Ansehen den Unterschied bemerken? Würde er sich erinnern?
Ihn drückte die Blase. Er schlug die Decke zur Seite. Als er an der Kamera vorbeikam, winkte er, lächelte schief und sagte: »Ich bin es, nicht der Schläfer!«
Barfuß schlich er über den Gang zur Toilette. Bei der Rückkehr winkte er wieder. Mit der Hand wischte er sich die staubigen Fußsohlen ab, ehe er ins Bett schlüpfte. Er zog sich die Decke über die Ohren.
20
Er blinzelte zur Kamera. Sie stand unverrückt da. Auch sonst schien nichts verändert.
Es war der 4. August. Nun lag es einen Monat zurück. Vor einem Monat hatte er morgens vergeblich an der Haltestelle auf den Bus gewartet. So hatte es begonnen.
Er öffnete die Fensterläden. Ein sonniger Tag. Kein Ast, kein Halm regte sich. Jonas zog sich an. In der Tasche fühlte er das Notizheft. Er schlug die erste freie Seite auf und schrieb:
Ich frage mich, wo du am 4 . September sein wirst und wie es dir ergehen wird. Und wie es dir ergangen ist in den vier Wochen davor. Jonas, 4 . August, Kanzelstein, Schlafzimmer, am Tisch stehend, angezogen, müde.
Er betrachtete das Bild an der Wand. Dem verwitterten Rahmen und den Farben nach war es schon älter. Es zeigte ein einzelnes Schaf auf einer Wiese. Das Hinterteil des Tiers steckte in einer Jeans, das Vorderteil hüllte ein roter Pullover ein. An den Füßen trug es Strümpfe, auf dem Kopf einen keck zur Seite geschobenen Hut. Dieser kuriose Anblick erinnerte ihn daran, was er geträumt hatte.
Er hatte in der Brigittenauer Lände zum Fenster hinausgesehen. Ein Vogel kam und ließ sich auf der Lehne eines Stuhls nieder, welcher auf einem Balkon stand, den Jonas nicht hatte. Er freute sich über den Vogel. Endlich wieder Tiere!
Plötzlich veränderte sich der Kopf des Vogels. Er wurde breiter und länger, er sah häßlich aus und wütend, als gebe er Jonas die Schuld an dem, was da mit ihm geschah. Starr betrachtete Jonas ihn, da veränderte der Vogel erneut sein Aussehen. Nun hatte er einen Igelkopf. Gleich darauf wuchs der Körper. Jonas sah einen Igelkopf, der auf dem Rumpf eines eineinhalb Meter langen Tausendfüßlers saß. Der Tausendfüßler rollte sich ein und kratzte sich dabei im Gesicht. Das Gesicht wurde menschenähnlich. Der Mensch schnappte nach Luft. Er streckte die Zunge heraus, als werde er gewürgt. Er zappelte mit seinen tausend kleinen Füßen und schnaubte, und aus seinen Nasenlöchern trat rosafarbener Schaum.
Wieder veränderte sich der Kopf. Er verwandelte sich in den eines Adlers und darauf in den eines Hundes. Weder der Adler noch der Hund sahen aus, wie sie aussehen sollten. Alle Tiere schauten ihn an. Ihren Augen hatte er abgelesen, daß sie ihn gut kannten, seit langem kannten. Und er sie.
Er frühstückte Vollkornbrot und Löskaffee. Nachdem er alle Fenster geöffnet hatte, streifte er durch das Haus.
Längere Zeit schaute er vom Südbalkon in die Landschaft. Er wunderte sich über die Dimensionen. Alles erschien ihm kleiner und enger, als er es in Erinnerung gehabt hatte. Zum Beispiel der Balkon. Es war eine Terrasse gewesen, auf der er hatte Fußball spielen können. Nun stand er auf einem gewöhnlichen Balkon, der vier Meter lang war und anderthalb breit. Ebenso verhielt es sich mit dem Garten, in längstens einer Minute hatte
Weitere Kostenlose Bücher