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Die Arche

Die Arche

Titel: Die Arche Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Alastair Reynolds
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Leben
beschmutzen?«
    »Sagten Sie nicht, sie hätten mehr als nur ein
Verbrechen begangen?«
    »Das ist richtig. Ich habe viel gesündigt.« H ging
auf einen primitiv zusammengeschweißten Metallbehälter zu,
der aufrecht mitten im Raum stand. »Aber die Frage ist doch:
warum sollte mein heutiges Ich wegen der Taten seiner jüngeren
Ausgabe an bestimmte Verhaltensmuster gebunden sein? Die beiden haben
sicher keine einzige Körperzelle und nur noch sehr wenige
Erinnerungen gemeinsam.«
    »Eine kriminelle Vergangenheit berechtigt noch nicht zu einer
eigenen Ethik.«
    »Gewiss nicht. Aber der Mensch hat so etwas wie einen freien
Willen. Wir brauchen nicht zu Marionetten unserer Vergangenheit zu
werden.« H hielt inne und berührte den Kasten. Er hatte die
Maße und die Proportionen eines so genannten Palankins, wie er
von Hermetikern nach wie vor zur Fortbewegung benutzt wurde.
    I holte tief Atem, dann sprach er weiter. »Vor hundert Jahren
machte ich meinen Frieden mit meiner Vergangenheit, Mr. Clavain. Aber
das hatte seinen Preis. Damals gelobte ich mir, gewisse Fehler wieder
gut zu machen, von denen viele Chasm City unmittelbar betreffen. Es
war kein einfaches Vorhaben, und ich pflege solche Dinge nicht auf
die leichte Schulter zu nehmen. Leider bin ich bei meinem wichtigsten
Projekt gescheitert.«
    »Nämlich?«
    »Dazu kommen wir gleich, Mr. Clavain. Zuerst möchte ich
Ihnen zeigen, was aus ihr geworden ist.«
    »Aus wem?«
    »Der Mademoiselle. Sie war die Frau, die vor mir in diesem
Gebäude lebte und es auch noch bewohnte, als Skade auf ihrer
Mission hier war.« H schob eine schwarze Platte auf, die sich in
Augenhöhe an der Seitenwand des Behälters befand. Darunter
wurde ein schwarzes Fensterchen sichtbar.
    »Wie hieß sie wirklich?«, fragte Clavain.
    »Nicht einmal das kann ich Ihnen sagen«, bedauerte H.
»Manoukhian kennt sie vielleicht ein wenig besser – er
stand in ihren Diensten, bevor er zu mir überwechselte. Aber ich
konnte ihm die Wahrheit nie entlocken, und er ist viel zu
nützlich und auch viel zu empfindlich, als dass ich ihn einem
Trawl aussetzen könnte.«
    »Was wissen Sie denn überhaupt von ihr?«
    »Nur, dass sie viele Jahre lang in Chasm City viele
Fäden zog, ohne dass irgendjemand das bemerkt hätte. Sie
war die perfekte Diktatorin. Sie hatte die Gesellschaft so vollkommen
im Griff, dass niemand wahrnahm, wie sehr sie alles beherrschte. Ihr
Vermögen war nach den üblichen Maßstäben
praktisch gleich Null. Sie ›besaß‹ nichts im
üblichen Sinne. Aber sie verfügte über
vielfältige Druckmittel und konnte erreichen, was immer sie
wollte, ohne Aufsehen zu erregen. Oft glaubten die Menschen, aus
reinem Eigennutz zu handeln, während sie in Wirklichkeit nur von
der Mademoiselle dirigiert wurden.«
    »Das hört sich an, als wäre sie eine Hexe
gewesen.«
    »Oh, ich glaube nicht, dass ihre Fähigkeiten in
irgendeiner Weise übernatürlich waren. Sie konnte einfach
die Informationsströme mit einer Klarheit verfolgen, die den
meisten Menschen abgeht, und fand stets genau den Punkt, wo der Druck
anzusetzen hatte, wo der Schmetterling mit den Flügeln schlagen
musste, um auf der anderen Seite der Welt einen Sturm
auszulösen. Das war ihre Begabung, Mr. Clavain. Ein intuitives
Verständnis für chaotische Systeme, übertragen auf die
psychosoziale Dynamik der zwischenmenschlichen Beziehungen. Hier,
sehen Sie sich das an.«
    Clavain trat an das Fensterchen und schaute ins Innere des
Kastens.
    Er sah eine Frau, die offenbar einbalsamiert worden war. Sie
saß aufrecht da und hatte die Hände züchtig im
Schoß gefaltet. In den Fingern hielt sie einen geöffneten
Fächer aus zartem, durchsichtigem Papier. Sie trug ein
Brokatkleid mit Stehkragen, das seit etwa hundert Jahren aus der Mode
war. Das schwarze Haar war über der hohen, faltenlosen Stirn
streng nach hinten gekämmt. Ob die Augen tatsächlich
geschlossen waren, oder ob sie nur den Fächer in ihrem
Schoß betrachtete, konnte Clavain nicht erkennen. Immer wieder
liefen Wellen über die Gestalt hin, als wäre sie eine Fata
Morgana.
    »Was ist mit ihr geschehen?«, fragte Clavain.
    »Sie ist tot, jedenfalls für meine Begriffe, und das
seit mehr als dreißig Jahren. Aber sie hat sich nicht
verändert. Seit sie starb, hat keinerlei Verwesung eingesetzt,
es findet kein Verfall statt. Andererseits kann in dem Kasten kein
Vakuum herrschen, sonst hätte sie nicht atmen
können.«
    »Ich verstehe nicht ganz. Ist sie in diesem Ding

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